90. Kapitel: Angie

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Ich erkenne an Germans Gesichtsausdruck, dass etwas ganz und gar nicht stimmt. Seine Mundwinkel fallen nach unten und er kneift seine Augen zusammen, als möchte er etwas ausblenden. Ich folge seinem Blick, erstarre in der Bewegung, bereue es. Tatsächlich sehe ich gerade die Frau sich einen Weg zu uns bahnen, mit der ich am wenigsten gerechnet habe. Ich habe keine Lust auf Konfrontationen. Und keine Kraft. Ich bin am Ende meiner Kräfte, der Tag geht schon so lange, es ist soviel passiert, ich wünsche mir nur noch eine eiskalte Dusche um all meine Gedanken zu vertreiben und in meinem eigenen weichen Bett zu schlafen. Auch wenn ich es nicht wahrhaben will, ich kann nicht mehr. Und ich weiß nicht, an welcher Stelle genau meine Belastungsgrenze erreicht ist. Warum kann man nicht einfach verschwinden, sich in Luft auflösen, wenn einem etwas nicht passt? Wieso zwingt uns das Leben, jede Konfrontation mit den unschönen Dingen aus zustehen? Es kann sich nur noch um Sekunden handeln, bis ich meiner Mutter in einen Streit geraten werde. Ich will das doch alles gar nicht! Wieso kann ich nicht in aller Ruhe wieder gesund werden? Wieso dieser Druck von allen Seiten? Man mag es nicht wahrnehmen, wenn man nicht genau darauf achtet, aber ich spüre es überall. Als läge es in der Luft, als wäre jedes Atom in diesem Haus getränkt davon. Von Erwartungen, Anforderungen, Versprechen. Die ich gegeben habe, um alle froh zu stimmen, um keine Sorgen zu produzieren, die über meinen Kopf hinweg gemacht wurden. Ich spüre den Druck in mir, wie er in jeder Faser meines Körpers pulsiert um sich seinen Weg heraus zu suchen. Es ist hart. Aber ich werde durchhalten. Um all dieser Leute willen. Wegen German und Violetta. Weil sie an mich glauben, weil schon genug enttäuscht wurden. Weil all das endlich ein Ende haben soll. 

Ich nehme die Geräusche der Party gedämpft wie durch einen Schleier war. Manchmal frage ich mich, was mein Kopf mir alles vormacht. In welche Szenarien er mich hineinreitet, ohne, dass es mir bewusst ist. Ich fühle mich fremd in meinem Körper, immer etwas mehr, wie ein Fremdkörper in meinem eigenen Leben. Aber ich kämpfe dagegen an. Mit meiner ganzen Kraft. Als wäre es mein Lebensziel, gegen mich selbst zu kämpfen. All das schießt wie wild durch meinen Kopf, als meine Mutter sich einen Weg zu uns bahnt. Und dann steht sie vor mir. Unwillkürlich greife ich nach Germans Hand, welcher meine sanft drückt und mich aufmunternd anlächelt. Aber ihm stehen die Sorgen um mich ins Gesicht geschrieben. Er darf mich nicht für schwach halten, ich will bei ihm bleiben, ich kann nicht noch einmal von ihm getrennt sein! "Lass uns woanders sprechen", fängt meine Mutter das Gespräch an, funkelt mich düster mit ihren hellbraunen Augen an. Ich schlucke schwer, zementiere mir ein Lächeln in mein Gesicht, von dem ich hoffe, dass es nicht allzu falsch und aufgesetzt aussieht. German hält noch immer meine Hand und führt uns in sein Büro. Er fordert Angelica auf, sich zu setzen, dann schließt er die Tür hinter mir und nimmt neben mir auf der anderen Seite des Schreibtisches Platz. Einen Moment herrscht Stille zwischen uns. Wie das abwartende Beobachten eines Raubtieres kurz vor der aussichtslosen Hetzjagd. Und dann legt das Raubtier los. "Du hast mich enttäuscht, Angeles. Ich wusste schon immer, dass du die Schwächere aus unserer Familie bist", murmelt sie kurz angebunden. Ich verkrampfe mich auf meinem Stuhl. Wieso? Was soll das hier? "Und du bist jetzt extra angereist, um mir das vorzuwerfen? Verzeih mir, wenn ich mich nicht im Griff habe. Ist dir eigentlich bewusst, dass all das eine Ursache hat?", gebe ich zurück. "Du hast nicht einmal den Mut, mit deiner eigenen Mutter zu sprechen! Dass es dir schlecht geht, bekomme ich erst mit, als du im Krankenhaus liegst und es dir miserabel geht. Und dann gibst du dich wieder mit German ab. Verstehst du nicht? Er ist der Ehemann deiner Schwester, habe einmal ein bisschen Respekt. Nicht zu vergessen, dass er uns seine Tochter jahrelang vorenthalten halt. Ausgerechnet in seine Arme flüchtest du dich? Armselig. Er ist Schuld an deinem Zustand, siehst du das denn niemals ein? Ohne ihn würde es dir besser gehen!", giftet sie mich an. Das geht zu weit. "Sag mal, hörst du dir eigentlich manchmal zu?! Ohne German wäre ich tot. Und das meine ich vollkommen ernst. Wieso geht das nicht in deinen Dickschädel? Ich glaube, das einzige Problem hier, existiert in deinem Kopf. Weil du nicht einsehen kannst, dass du schon wieder beinahe eine Tochter verloren hättest. Weil du das Gefühl hast, keine gute Mutter zu sein. Hör auf, die Schuld bei anderen Menschen zu suchen, die mir helfen. An deiner Stelle. Wäre das nicht schließlich der Job einer guten Mutter? Dass sie ihre Tochter in solchen Situationen unterstützt? Und darin hast du versagt. Das ist der einzige Grund!", entfährt es mir. Ich keuche schwer. German legt seine Hand auf meinen Rücken um mich zu beruhigen. Wie gut es tat, all dies einfach einmal laut auszusprechen. Meiner Mutter scheint es die Sprache verschlagen zu haben. Scheint, als hätte ich einen wunden Punkt getroffen. "Das hier ist noch nicht vorbei. Und denk mal darüber nach, was German für eine Wirkung auf dich hat", zischt sie mit verkniffenem Gesicht und  stürmt aus dem Büro. 

Ich starre ihr hinterher. Starre auf die Tür, sehe, wie sie ins Schloss fällt. Starre auf die nun geschlossene Tür und kann nicht glauben, was sich in den letzten Minuten in diesem Büro abgespielt hat. Es ist, als würde sich alles in meinem Kopf drehen. Die Welt verschwimmt vor meinen Augen. Ein Sturzbach aus Tränen ergießt sich über meine Wangen, ich umklammere die Tischkante um mich zu halten. Germans Arme ziehen mich in eine Umarmung, aber ich bekomme kaum etwas mit. Meine Tränen sind das Einzige, das gerade in meinem Bewusstsein ankommt. Der Rest rauscht in meinem Kopf. Wieder diese Taubheit in meinem Körper, diese Gefühlslosigkeit. Nur die Tränen. Nur die weiße Tür, die geschlossen bleibt. Harte Vorwürfe, gebrochene Versprechen. Ich wollte doch nicht zerbrechen, ich wollte stark bleiben, mir meine Unsicherheit nicht anmerken lassen. Stark bleiben hinter meiner Maske. Wieso bin ich nicht in der Lage, das durchzuhalten? Meine Wünsche und Forderungen wirbeln in meinem Kopf herum, verursachen ein noch größeres Chaos. Ich spüre mich nicht mehr. Ich bestehe nur noch aus aufgestauten Emotionen, aus leeren Versprechungen und Tränen. Dann wird es dunkel um mich herum. 

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