50. Kapitel: German

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Während Monsieur Bouviers Worte ist Angie jegliche Farbe aus dem Gesicht gewichen. Hat sie tatsächlich geglaubt, dass Lucia nun doch nicht gehen muss? Hat sie es verdrängt? Ich greife nach ihrer Hand und drücke sie fest. Angie darf nicht glauben, dass sie alleine ist. Wenn sie das glaubt, hat sie schon verloren. "Kann ich sie sprechen?", fragt Angie mit beherrscht fester Stimme. Monsieur Bouvier scheint sich nicht sicher zu sein, was er sagen soll. Er ist kein ausgebildeter Psychologe, was soll man auch anderes erwarten. Unsicher wandert sein Blick zu mir. Vielleicht ist es das Beste für Angie, wenn sie einmal in aller Ruhe mit Lucia sprechen kann. Sie bedeutet ihr sehr viel, vielleicht mindert das Gespräch die Traurigkeit, wenn ihr bewusst wird, dass sie sie kaum noch sehen wird. Kaum merkbar nicke ich dem Arzt zu. Dankbar wendet er sich nun an Angie. "Wieso nicht? Sie ist momentan noch im Haus, ich werde sie zu Ihnen schicken. Und bitte, stellen Sie nie wieder so einen Blödsinn an, können Sie mir das versprechen?", bittet er. Angie zögert einen Moment. Wieso? Ist sie doch nicht so davon überzeugt, dass sie alleine klar kommt, wie sie vorgibt zu sein? "Das lässt sich einrichten", meint sie jedoch einen Augenblick später schmunzelnd. "Na dann", verabschiedet sich Monsieur Bouvier und verlässt den Raum. Spielt Angie nur ein Spiel mit mir? Geht es ihr wirklich besser oder vertuscht sie ihre Schwäche nur? 

Ich hole gerade Luft um Angie etwas zu fragen, als mich ein Klingeln unterbricht. Es ist mein Handy. Ein Blick auf das Display verrät mir, dass es Violetta ist, die versucht mich zu erreichen. "Ich rede mit ihr", meint Angie und nimmt mir das Handy aus der Hand. Ich stehe auf und laufe an das Fenster, um Angie etwas Privatsphäre zu geben. Trotzdem höre ich jedes Wort, sowohl Angies als auch die meiner Tochter. "Hey Vilu", meldet sich meine Schwägerin. "Angie!", höre ich Violetta überrascht ausrufen. Sie scheint sich echt zu freuen. "German hat mir erzählt, dass du mich sprechen wolltest und da dachte ich mir, ich nutze die Chance gleich einmal aus", fängt sie an. "Wie geht es dir denn?", will Violetta von ihrer Tante wissen. "Besser. Es gab einen Moment, da war ich echt am Ende, aber jetzt wird alles besser. Bald bin ich wieder bei dir im Studio und probe mit dir", antwortet sie. Violetta zögert am anderen Ende der Leitung in Argentinien. "Angie, wenn du sagst, du warst am Ende, was meinst du damit genau?", hakt sie unsicher nach. Auch Angie wird nun nervös. Vielleicht ist das eine Art der Therapie für Angie, aber es wird ihr nicht leicht fallen, die Wahrheit zu erzählen. Was wird Violetta dazu sagen? "Ich, ich konnte einfach nicht mehr. Ich bin abgehauen, ich wollte nur noch weg von hier. Dein Papa hat mich gefunden. Er hat mich gerettet", schwächt Angie ihre Geschichte ab. Wieder ein Zögern. "Soso, dann ist er also dein Lebensretter. Na das verändert aber jetzt alles", meint sie wenig später. Angie schnappt empört nach Luft. "Also bitte! Ja, ich habe German zu verdanken, dass ich überhaupt noch mit dir telefonieren kann. Interpretiere da jetzt mal nicht zu viel hinein!", meint sie schmunzelnd. "Gibst du mir noch einmal Papa?", bittet meine Tochter. Angie verabschiedet sich von ihrer Nichte und drückt mir mein Handy in die Hand. "Papa, pass auf Angie auf. Ich will nicht, dass sie sich etwas antut. Sie soll ihr Lachen behalten. Bitte", fleht sie mich an, alle Fröhlichkeit aus ihrer Stimme gestrichen. "Natürlich", antworte ich ihr ernst. Dann lege ich auf. 

"Was wollte sie denn von dir?", erkundigt sich Angie neugierig. "Nichts besonderes", wiegele ich schnell ab. Angie scheint nachfragen zu wollen, als sich die Tür öffnet und sich eine weibliche Gestalt durch den Spalt zwängt. Es ist eine blasse, unausgeschlafene Lucia. "Hey", begrüßt sie uns müde. Angie wirft ihr ein vorsichtiges Lächeln zu. "Was ist los?", erkundigt sie sich. "Heute ist mein letzter Tag hier in Paris, morgen komme ich weg. Entsorgt wie Abfall. Ich scheine die Statistiken im Klinikum zu verfälschen. Schön, wie leicht man Menschen loswerden kann, nicht wahr?", fragt sie voller Ironie. So habe ich Lucia noch nie erlebt. Sie war traurig, glücklich, engagiert, besorgt, nervös oder pflichtbewusst; wütend und voller Sarkasmus war sie noch nie. "Ich wünschte ich könnte etwas für dich tun", murmelt Angie leise. Ich glaube, ich sollte mich aus diesem Gespräch raushalten. "Ha, schön wäre es. Niemand kann etwas für mich tun, die Entscheidung ist gefallen. Ich wünschte mir, es wäre anders, aber nun ist es zu spät", meint sie bitter. Die Enttäuschung steht ihr ins Gesicht geschrieben. "Das ist alles meine Schuld. Ich bin zu weit gegangen", jammert Angie. "Ich sage es ungern, das weißt du, aber ja, das war zuviel des Guten. Es ist zu spät, alles ist entschieden, mach dir keine Sorgen um mich", winkt sie ab, doch sie ist sauer auf Angie, auch wenn sie es nicht ausspricht. Etwas steht zwischen den beiden und das könnte böse enden. Ich kann Lucia verstehen, doch sie sollte selbst wissen, das es besser wäre, wenn sie Angie nicht in Aufruhr versetzen würde. "Du weißt genau, dass ich das nicht kann. Ich kann meine Gedanken nicht kontrollieren, die tun, was sie wollen. Ich habe dir alles kaputt gemacht!", beklagt sich Angie. "Kannst du einmal aufhören, dich in Selbstmitleid zu ertränken?", zischt Lucia. Erschrocken halte ich die Luft an. Das hat sie nicht gerade gesagt, oder? Auch Lucia scheint bewusst geworden zu sein, was sie von sich gegeben hat. "Angie, nein, so war...", fängt sie an, doch Angie unterbricht sie mit lauter Stimme. "Spar dir deine Worte, du hast das gesagt, was dir die ganze Zeit auf der Zunge lag, du hast die Wahrheit gesagt. Ich quäle mich, dich und meine Familie. Ich bin eine Belastungsprobe und haue den anderen immer ihre Probleme um die Ohren und wenn das nicht klappt, dann erschaffe ich eben welche! Ist es das, was du sagen wolltest?" Lucia packt Angie am Oberarm. "Verdammt, nein, das ist es nicht. Es ist nicht wahr! Hör auf, dir solche Dinge einzureden!", beschwört sie ihre Patientin. Es kann einfach nicht gut gehen, ich muss da einschreiten, bevor die Situation eskaliert. Doch Angie kommt mir zuvor, mit einem Ruck reißt sie sich von Lucia los und springt auf. "Ich rede mir überhaupt gar nichts ein. Wir alle hier in diesem Raum kennen die Wahrheit und wahr ist das, was ich gesagt habe. Vielleicht habe ich diese Essstörung nur, um zu erkennen, was ich wirklich für ein Mensch bin. Vielleicht bin ich ja dieses Monster. Ich sollte aufhören dagegen anzukämpfen und es lassen. Vielleicht erkennt ihr zwei ja dann, wie ich wirklich bin. Ein Monster", meint sie mit messerscharfer Stimme, die mich erschaudern lässt. Das hier ist doch einfach nicht wahr, es muss ein Albtraum sein! Ich dachte, alles würde endlich wieder gut werden, doch es scheint nicht zu stimmen. Wie kann ich nur Angie helfen? Ist es jetzt endgültig vorbei?

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