60. Kapitel: Angie

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Meine dunklen, deprimierten Gedanken wandern in einen versteckten Winkel meines Gehirns und werden durch Violettas aufgeregte Stimme verscheucht. Ich blicke in ein strahlendes Gesicht, wie habe ich sie nur vermisst, meine kleine Vilu. Sie ist so erwachsen geworden, aus ihren braunen Augen spricht eine klare Zielstrebigkeit, die mich mit Stolz erfüllt. "Wie bist du hergekommen? Bist du ganz alleine geflogen?", fragt German seine Tochter. Moment, dann wusste German gar nicht, dass Violetta heute hier auftaucht? Egal, dann hat er endlich auch mal etwas, über das er sich freuen kann. "Ich bin mit Ramallo und Olga geflogen. Die beiden haben es vor Sehnsucht kaum noch ausgehalten und da es mir nicht anders ging, haben wir beschlossen, euch zu überraschen. Hat es funktioniert?", antwortet sie glücklich. German und ich nicken synchron. Das ist ihr definitiv gelungen. "Olga und Ramallo sind im Hotel, ich habe ihnen klar gemacht, dass wir euch nicht alle zusammen überrumpeln sollten", fährt sie fort. Ich drücke sie noch einmal fest an mich. "Danke", flüstere ich, überfordert mit der Menge an Glücksgefühlen, die meinen Körper durchlaufen. Dieser Tag könnte kaum besser sein, der Kuss, Violetta... "Können wir vielleicht in ein Lokal gehen? Ich habe schrecklichen Hunger", bemerkt Violetta schmunzelnd. German lacht und hakt sich bei ihr ein. "Natürlich, folge mir", antwortet er seiner Tochter. 

Lächelnd laufen wir zu dritt durch die wunderschönen Straßen Paris und staunen über die Vielfalt an Menschen, die hier unterwegs ist. Violetta wirft ihren Plan schnell um und kauft sich ein Baguette, das mit Salat, Tomaten und Mozzarella belegt ist. Ihrem glücklichen Gesichtsausdruck nach, muss es ihr sehr schmecken. Tatsächlich scheint es meine Nichte zu sein, die uns alle glücklich macht. German starrt lächelnd abwechselnd auf seine Füße, Violettas Rücken oder meine Hände. Und ich bin ebenfalls zufrieden. "Verzeiht mir bitte, aber ich Buenos Aires wäre es jetzt mitten in der Nacht und so ungerne ich es auch zugebe, ich bin hundemüde, wenn ich nicht bald ein Bett sehe, falle ich um und schlafe auf der Straße. Können wir unsere Stadttour morgen fortsetzen? Dann nehmen wir am besten gleich Olga und Ramallo mit, sonst beschweren sie sich noch, dass sie zu kurz kommen", gesteht Violetta einige Zeit später. "Natürlich Vilu", antworte ich und wir begleiten Violetta bis zur Eingangstür ihres Hotels. "Danke für den schönen Tag, du hast mich echt glücklich gemacht", bedanke ich mich bei meiner Nichte und umarme sie fest. Violetta erwidert die Umarmung ebenso und flüstert mir in mein Ohr:"Ich bin für dich da, wann immer du mich brauchst, versprochen." Mit einem letzten Lächeln drehen wir uns um und lassen Violetta im Hotel schlafen. "Sie ist unglaublich", meint German und ich kann ihm nur zustimmen. Ich kann so froh sein, eine Nichte wie Violetta zu haben.

Der nächste Tag beginnt mit einer dunklen Wolke, die die morgendliche Sonne verdeckt. Es sieht nach Regen aus und das eignet sich schlecht für eine ausgiebige Tour durch Paris. Seufzend schlage ich die Decke zurück und schlüpfe in ein weißes T-Shirt und eine schwarze Leggings. Kaum dass wir wieder in der Klinik ankamen, erklärte mir eine Schwester, dass ich auf die Normalstation verlegt werden würde. Mit meinen Tagebuch-Aufschrieben in der Hosentasche machte ich mich abends noch auf den Weg in mein neues Zimmer, bevor ich todmüde auf der Stelle einschlief.

Ich stelle mich an mein Fenster und starre die dunkelgrauen Wolken an. Sie haben etwas Wunderschönes an sich, auch wenn sie Regen bringen und keine Sonne. Aber wer sagt, dass Regen immer schlecht sein muss? Es gab Zeiten, da war der Regen der Rhythmus meiner Musik und meiner Gefühle. Ich habe meine Lieder nach ihm komponiert, habe mir das sanfte Schlagen der Regentropfen zu eigen gemacht und sie als Grundlage für einige meiner Kompositionen genutzt. Regen perlt an der Glasscheibe des Fensters ab und ziert sie mit nassen Spuren, die mich an Tränen erinnern, die über ein unschuldiges Gesicht laufen. Mich verzaubert der Regen jedes Mal aufs Neue. 

Meine versteckten Gedanken brechen wieder ans Tageslicht. Ich habe Angst. Mal wieder. Doch dieses Mal nicht vor den Auswirkungen meiner Taten, sondern vor meinem Herzen. Vor der Herzinsuffizienz, die mich in jedem unachtsamen Moment mein Leben kosten kann. Das Leben, das ich mir erst sorgsam wieder erkämpft habe. Ich will es nicht schon wieder verlieren. Man muss seine Vergangenheit akzeptieren können um eine zufriedene Zukunft haben zu können und das habe ich getan. Egal wie sehr mich Worte und Taten verletzt haben, gleich wie sehr ich gelitten und mir geschadet habe, ich habe daraus gelernt und bin daran gewachsen. Und jetzt soll mir das eventuell schnell wieder genommen haben? Nicht zum ersten Mal seit der Diagnose höre ich in mich hinein. Ist das Unsicherheit oder leichter Schwindel? Heftiges Nachdenken oder Kopfschmerzen? Lag ich falsch oder schmerzt mir meine Hüfte? Bin ich nervös oder schlägt mein Herz aus anderen Gründen zu schnell? Es macht mich verrückt, aber ich werde nicht so weit gehen und zu mit jemandem über meine Probleme reden. Jeder hat seine eigenen Probleme und ein Gespräch lädt demjenigen noch meine eigenen dazu auf. Ich komme damit schon klar, auf meine Art und Weise. Und ich habe Violetta und German, die mich sicherlich mit allen Mitteln der Kunst davon ablenken werden, darauf kann ich mich blind verlassen. German hatte mir gestern Abend noch mitgeteilt, dass er Ramallo, Olga und Violetta abholt und dann herkommt. Vielleicht sollte ich einfach an etwas Anderes denken, etwas, was mich glücklich macht. 

Bevor ich allerdings dazu kommen kann, wird meine Tür aufgerissen und eine übermütige Violetta, eine überdrehte Olga und ein versucht beherrschter Ramallo betreten vor einem grinsenden German mein Zimmer. "Angeles!", rufen Olga und Ramallo wie aus einem Mund und ziehen mich in eine heftige Umarmung, während der ich mich um meine Knochen fürchten muss. Ein bisschen mehr und sie wären bestimmt gebrochen. "Du schaust besser aus, ein bisschen von meinem Schokoladenkuchen und du bist wieder ganz die Alte", behauptet Olga in ihrem typischen Tonfall und glättet eine Falte in ihrem Rock. Ich verziehe mein Gesicht zu einer Grimasse. Die alte Angie werde ich vermutlich nie wieder sein. Ramallo scheint meinen Gesichtsausdruck richtig zu deuten und räuspert sich um das Thema zu wechseln. "Ich habe heute morgen einen Anruf für dich empfangen, Angie. Angelica wünscht sich, dass du dich bei ihr meldest, sie mache sich schreckliche Sorgen und wisse gar nicht was sie gerade denken solle. Ich denke, sie hat es verdient zu wissen wie es dir geht. Sie klang am Telefon überhaupt nicht gut", berichtet er und ich schnappe nach Luft. Natürlich hat Mama es verdient zu wissen, wie es ihrer einziger noch lebender Tochter geht, aber ich habe Angst vor dem Gespräch. Niemand ist ehrlicher als Angelica und sie muss wahrlich enttäuscht von mir sein, das kam in den letzten knappen Gesprächen zu gut zum Ausdruck. Wie wird sie reagieren, wenn sie erfährt, dass ihre jüngste Tochter mit ihrem Leben jongliert hat und es beinahe beendet hätte? Dass ihre Tochter ein Herz hat, das eine tickende Bombe ist? Ich will es gar nicht wissen, aber ich werde es bald erfahren. 

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