53. Kapitel: Angie

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Meine Finger umklammern den Türrahmen so fest, dass meine Fingerknöchel weiß hervortreten, so sehr muss ich das Zittern unterdrücken, dass durch meinen Körper wandert. Mein Blick ist starr auf Germans Augen gerichtet, dessen Blick schließlich ebenfalls in meinem Gesicht hängenbleibt. Die Gedanken scheinen in seinem Kopf zu kreisen, er scheint diesen Moment nicht verstehen zu können. Auch mir geht es nicht anders. Ich musste es tun, ich musste hier her kommen, ich wusste, dass German hier sein würde. "Angie", wispert er, noch immer ganz versteinert. "Ich bin hier, hier bei dir", antworte ich sanft. Da scheint ihn etwas aus seiner Schockstarre zu reißen, er macht einen Schritt auf mich zu und nimmt mich in den Arm, ganz sanft. Ich schlinge ebenfalls meine Arme um seinen Körper um ihm nahe zu sein und Halt zu finden. Es fallen keine weiteren Worte, sie wären ohnehin überflüssig, das Einzige, das zählt, sind unsere sich berührenden Körper, von denen eine Wärme ausgeht. "Du hast so wunderschön gespielt", murmele ich, als wir uns voneinander trennen. "Ich habe lediglich gespielt, was ich fühle", antwortet er nachdenklich. "Über was denkst du nach?", will ich von ihm wissen. "Ich überlege, was dieser Moment für uns bedeutet", antwortet er ehrlich. "Das entscheiden wir selbst", antworte ich. Das scheint ihn zum Nachdenken zu bringen. "Manchmal frage ich mich, wie viele Möglichkeiten ich vertan habe, dir früher zu helfen. Wie viele Chancen hätte ich ergreifen können?", murmelt er. "Keine. Es hat irgendwie so sein sollen, German, es hat keinen Sinn, wenn du darüber nachdenkst, das ist Vergangenheit. Diese Chancen sind verpasst, das heißt, es ist gut, dass sie verpasst wurden. Wer weiß, was dann passiert wäre. Lass uns nicht darüber nachdenken, was passiert wäre wenn, wir leben jetzt und nicht gestern und wenn wir nur nachdenken, was wir alles hätten besser machen können, verpassen wir die Chancen, die gerade auf uns warten. Es gibt nichts Unwichtigeres im Moment, als die Vergangenheit", versuche ich ihm klar zu machen. "Du hast Recht", meint er und streicht kurz über meinen Arm. "Dir geht es nicht gut, oder?", meint er mit zusammengekniffenen Augen. Er hat Recht, mir ist kalt und ohne den Türrahmen könnte ich kaum aufrecht stehen. Ich bin zu schwach und das weiß ich eigentlich auch. Ich zucke mit den Schultern. "Setz dich doch, ich mache dir einen Tee", bietet er mir an. Ich nicke ihm dankend zu. Er weiß wirklich, was ich brauche.

"Vor was hast du so große Angst?", will er wenig später wissen, nachdem ich mir es mit einer Decke auf dem Sofa bequem gemacht habe und in meine dampfende Tasse Tee schaue. "Was macht dir so große Angst, dass du dich nicht einfach überwinden kannst, wieso lässt du dich so leiden?" "Es ist nicht leicht zu erklären, vielleicht gibt es auch einfach keine Erklärung dafür, was ich tue und nicht tue. Tatsache ist, es tut mir gut. Ich brauche das Gefühl, etwas unter Kontrolle zu haben, nachdem mein ganzes Leben aus dem Ruder gelaufen ist. Dass ich wenig gegessen habe, geschah erst so nebenbei, ich habe den ganzen Tag komponiert, saß vor meinem Klavier und habe sonst nur noch geschlafen. Essen ist etwas elementares und so etwas zu missachten, hat mich irgendwie mit Stolz erfüllt. Es hat mich von anderen unterschieden, diejenigen, die eine Diät nach der anderen machen und keine Erfolge feststellen und verzweifeln, aber ich, diejenige, die so viel falsch gemacht hat, schafft es. Zu sehen, dass es funktionierte, war jeden Tag aufs Neue ein Ansporn für mich. Zuerst war es wie eine Strafe: Ich habe Leben zerstört, jetzt zerstöre ich mein eigenes, dann wurde es mein Ziel. Ich wollte mich und meinen Körper dafür büßen lassen, dass ich deine Liebe zerstört habe, dass ich einen schlechten Einfluss auf Violetta hatte, dass ich Marias Tod niemals ganz verarbeiten konnte. Ich war besessen von der Einbildung, dass das alles überdecken würde. Es hat nicht funktioniert, es hat alles nur noch schlimmer gemacht. Ich weiß nicht, ob jemals alles wieder wie früher werden kann, ob ich jemals ganz von dieser Störung wegkommen kann und das macht mir Angst. Ich halte mich von dir und Violetta fern, weil ich euch nicht zerstören will, weil ihr es verdient habt, ein anständiges Leben zu führen, ohne mich. Ich möchte euch einfach nur beschützen, einfach weil ihr das Wichtigste in meinem Leben seid, weil ihr mir alles bedeutet, was mir noch geblieben ist. Wenn ich zerbreche ist das egal, aber wenn euch etwas wegen mir passiert, dann würde ich mir das niemals verzeihen. Es ist alles nur zu eurem Bestem", antworte ich mit zitternder Stimme. German ergreift meine Hand und drückt sie fest. "Ich kann nicht von dir weggehen, du bedeutest mir ebenso sehr viel. Ich habe miterlebt, wie ich Todesangst um dich hatte, als ich die leere Tablettenschachtel und deinen leblosen Körper wenig später in meinen Armen gesehen habe. Ich brauche dich, ich brauche dich mehr als alles andere auf der Welt. Du zerstörst nicht, du erschaffst. Du bist da, wenn man dich braucht, ganz auf deine perfekte Art und Weise. Du bist die stärkste Frau, die ich je kennengelernt habe und wenn es einer schafft, alles zu schaffen, dann du. Ich glaube an dich, du hast mehr Menschen hinter dir, als du dir vorstellen kannst", meint er. Tränen bilden sich in meinen Augen und fließen ungehalten über meine Wangen, nässen mein Gesicht, mein T-Shirt, Germans Hand. Sanft streicht er meine Tränen fort, seine rauen Hände hinterlassen ein verräterisches Kribbeln in meinem Gesicht. Ich habe in letzter Zeit so viel über mein Leben nachgedacht, dass mir einfach die Gedanken fehlen. Da kommt ein Mann und wirft meine gesamten Prinzipien einfach über Bord. Er ist der erste, mit dem ich sprechen konnte, dem ich alles erzählen konnte, der mir nicht das Gefühl gibt, ich sei übergeschnappt. Ich verdanke ihm soviel mehr, als er denken kann. 

Irgendetwas stimmt nicht mit mir. Ich sehe unscharf und irgendwie wackelig. Habe ich mich hierher geschleppt, nur um dann bewusstlos auf dem Boden zusammenzubrechen? Ich wehre mich gegen die bleierne Müdigkeit, die von meinen Beinen herauf Besitz von mir ergreift. Meine Tasse rutscht aus meiner Hand und schlägt auf dem Boden auf, warmer Tee verteilt sich auf dem Boden. Ich möchte German darauf aufmerksam machen, doch meine Stimme gehorcht mir nicht. "Es geht alles vorbei", wispert er leise, streicht mir eine Strähne aus dem Gesicht und drückt meine Hand. Ich klammere mich an seine Worte, wie an einen Anker. Ich liebe dich, will ich sagen, doch diese Worte kommen mir nicht über die Lippen. Aber ich bin mir sicher, dass German ganz genau weiß, was ich ihm sagen will, denn seine funkelnden Augen geben mir Halt. Ich brauche ihn. Dieser Albtraum braucht ein Ende.

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