39. Kapitel: German

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Zum ersten Mal seit langer Zeit gehe ich joggen. Meine Laufschuhe habe ich aus Buenos Aires mitgebracht und nun kommen sie endlich zum Einsatz. Ich bin früher gerne gelaufen, aber in der letzten Zeit bin ich kaum noch dazu gekommen. Als ich einen schmalen Waldweg einschlage, merke ich, wie sehr mir das Laufen gefehlt hat. Ich verfalle in einen leichten Trab, die grünen Bäume am Rande meines Sichtfeldes verschwimmen zu einer undefinierbaren grün-braunen Masse. Meine Schuhe treffen in einem gleichmäßigem Tempo auf den lockeren Pfad, während sich meine Muskeln langsam lockern. Meter für Meter lege ich zurück, immer geradeaus, mit vollkommen freiem Kopf. Ich denke immer nur an den nächsten Schritt, nicht weiter, nicht zurück. Nach einer Weile bleibe ich außer Atem stehen und werfe einen Blick auf meine Uhr. Ich bin eine gute halbe Stunde diesem Pfad in den Wald hinein gefolgt und langsam kriecht die Kälte durch meine Kleidung. So sonnig der Tag auch angefangen hat, nun ist der Himmel wolkenbehangen und die Kälte lauert hinter jedem Baum. Ich beschließe umzukehren, vielleicht gibt es schon etwas Neues von Angie. Mein Handy habe ich nicht mitgenommen, wozu auch. 

Eine knappe Stunde später komme ich in der Wohnung an und schnappe mir mein Handy vom Tisch. Vier Anrufe in Abwesenheit, alle von Lucia, genauso wie die Nachricht auf meiner Mailbox. "Hallo Monsieur Castillo, hier spricht Lucia. Es ist dringend, Angie ist aus der Narkose erwacht und verlangt nach Ihnen. Sie ist ziemlich durch den Wind und stammelt etwas von grau, grünen Augen und durchsichtigen Uhren. Sie hat drauf bestanden, dass ich sie anrufe. Momentan schläft sie, aber kommen Sie bitte trotzdem ins Klinikum sobald Sie diese Nachricht abgehört haben, vielleicht verstehen Sie ja, was Sie meint. Bis später dann". Grüne Augen? Ich erinnere mich an niemanden, der grüne Augen haben könnte. Und gläserne Uhren? Wer weiß, wie stark Angie unter Narkose gestanden hat, die Narkosemittel sollen schließlich wirken wie Drogen. Wieso will Angie mich sehen? Will sie mir endlich erzählen, was sie nicht mehr geschafft hat? Ich muss sofort zu ihr! Ich stecke mein Handy in meine Tasche und mache mich auf der Stelle auf den Weg.

"Gut, dass Sie da sind", begrüßt mich kurze Zeit später Monsieur Bouvier. "Und es ist tatsächlich ausgeschlossen, während einer Narkose zu träumen?", hake ich nach. Was Lucia mir erzählt hat, geht mir einfach nicht mehr aus dem Kopf. Der Arzt nickt. "Ja, das ist wahr. Die Narkosemittel erzeugen eine künstliche Schlafphase, in der keine Träume produziert werden können. Neueste Studien wollen zwar etwas Anderes beweisen, doch das noch nicht gelungen, zu ungenau sind die Dinge, die die Patienten erzählen, wenn sie aus der Narkose aufwachen. Aber die Gehirnmuster, die man während der Narkose problemlos überwachen kann, sprechen auch gegen diese Hypothese", erklärt er. Aber was hat Angie Lucia dann erzählt? "Ist Angie schon wieder wach?", erkundige ich mich bei Lucia. "Nein, aber es müsste gleich soweit sein. Wir mussten ihr etwas zur Beruhigung geben, wenn sie könnte, wäre sie auf der Stelle aufgestanden und zu Ihnen gelaufen, dass können Sie mir glauben", antwortet die Schwester. "Während der Operation gab es einen kleinen Zwischenfall. Das Herz von Mademoiselle Carrara hat sich zunächst gegen den Ballonkatheter gewehrt und so kam es zum Kammerflimmern, doch wir konnten sie problemlos reanimieren", fügt Monsieur Bouvier hinzu. "Gehen Sie am besten zu ihr, wir sind gleich im Nebenzimmer, falls etwas sein sollte", meint Lucia und nickte mir aufmunternd zu. Ich nicke den beiden zu und verlasse den Raum.

So, wie Angie daliegt, erinnert sie mich daran, wie ich sie das erste Mal hier im Klinikum habe liegen sehen. Sie wirkt immer noch so zart und zerbrechlich, so liebevoll und so dünn. Wieder einmal wird mir schmerzlichst bewusst, dass ich nicht weiß, wie es mit Angie um ihre Essstörung steht. Ich habe Angst, dass sie sich kaum davon erholen mag, so kraftlos und erschöpft, wie sie ist. Es ist der psychische Teil bei dieser Krankheit, der mir Kopfzerbrechen bereitet. Ich würde alles dafür tun, wenn es einen Weg gäbe, ich zu helfen. Doch wenn sie es wirklich nachhaltig schaffen will, aus dieser Falle herauszukommen, muss sie es aus eigenem Antrieb schaffen, ohne, dass ich sie unter Druck setze. Als ich meinen Blick nachdenklich über Angie schweifen lasse, sehe ich, wie sie blinzelt und langsam ihre Augen öffnet. Dumpfe blaue Augen schauen mich an, getrübt vom leichten Schlaf und gezeichnet von vielen schlaflosen Nächten und einer Operation. "German, du bist da", wispert sie leise und streckt eine Hand nach mir aus. Ein Lächeln huscht über meine Lippen, als ich sie ergreife und mit meiner umschließe. "German, ich habe etwas geträumt, auch wenn mir keiner glaubt", flüstert sie. Der Traum. "Erzähl mir davon, Angie. Ich höre dir zu", antworte ich ebenso leise wie sie. "Ich kann mich nicht mehr ganz erinnern, das meiste ist inzwischen verschwommen. Ich war in einem grauen Raum, da war eine Uhr, durchsichtig und mit goldenen Zeigern. Und dann kam ein Mann in den Raum, oder er war schon da, ich habe ihn weder kommen, noch gehen sehen. Er wusste wer ich bin. Ich habe an dich gedacht, an Violetta. Die Uhr ist zersprungen. Das letzte, das ich gesehen habe, waren die grünen Augen dieses Mannes. Ich könnte ihn dir nicht einmal beschreiben, er war wie ein Phantom und doch wie ein Mensch aus Fleisch und Blut. Was hat das zu bedeuten German?", erzählt sie mir mit gedämpfter Lautstärke. Das klingt schon alles sehr wirr, da muss ich Lucia und Monsieur Bouvier Recht geben, aber Angie würde sie so etwas nie ausdenken. Und wenn Angie das geträumt hat, muss es einen Grund dafür geben. "Ich habe Angst, German", haucht Angie mit zerbrechlicher Stimme. Ich betrachte sie nachdenklich. Sie zittert unmerklich. "Wovor? Ich bin bei dir, wohin du auch gehst. Dir wird nichts passieren", versuche ich sie zu beruhigen. Als die Worte über meine Lippen gekommen sind, merke ich, wie wahr sie sind. Ich könnte nicht verantworten, dass Angie irgendetwas passiert. "Das ist es nicht, German. Ich weiß, dass ich dir vertrauen kann, dass heißt, ich hoffe es. Es gibt da noch etwas Anderes, das mir furchtbar wichtig ist. Ich kann nicht darüber sprechen, ehe ich über eine Sache Klarheit verschafft habe, verzeih mir. Kann man seine Gefühle verlieren? Kann man sich in ein emotionsloses Wesen verwandeln, das mehr überlebt als lebt? Kann man seine eigene Identität verleugnen?", fragt sie mich zitternd. Sie sind ganz und gar nicht gut aus. Sie zittert immer mehr und der Monitor piepst. "Beruhige dich, Angie", flüstere ich ihr zu. Sie atmet langsamer und das Piepen hört auf, doch Angies Blick ist nun so voller Furcht und Sorge, dass es mir eiskalt den Rücken hinunterläuft. Diesen Blick werde ich so schnell nicht vergessen. Emotionslos. Eiskalt. Was geschieht hier? Ist der Lauf der Dinge noch zu stoppen oder hat das Schicksal bereits an den Fäden gezogen? 

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