73. Kapitel: German

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Den Tag vor Angies Umzug verbringe ich mit nervösem Hin- und Herlaufen. Ich kann mich und meine Nerven nicht zur Ruhe bringen, etwas macht mich nervös, etwas, das ich nicht zu fassen bekomme. Sollte ich mich nicht darüber freuen, dass Angie einen so großen Schritt nach vorne auf dem Weg ihrer Genesung macht? Sollte ich nicht gerade bei ihr sein und sie unterstützen? Sie wird bestimmt genauso nervös sein wie ich, mit dem kleinen aber feinen Unterschied, dass sie sich unglaublich freut und ich diese überschwängliche Freude aus unidentifizierbaren  Gründen nicht mit ihr teilen kann. Ich mache mir einfach Sorgen um sie. Wie wird sie auf den Freiraum reagieren? Sie wird niemanden haben, der sie wirklich kontrolliert, wenn ihre Essstörung wieder anklopft, hat sie niemanden an ihrer Seite, der für sie die Tür zuschlagen kann, wenn sie wie gelähmt ist. Ich werde bei ihr sein müssen, auch wenn ich das nicht darf. Ich habe einen Anruf von Monsieur Bouvier bekommen. Er und Marie Marchand haben in einem Gespräch beraten, dass es für Angie wichtig sei, dass ich nicht bei ihr auftauche. Was Angie wohl davon hält? Ich weiß nicht einmal, ob das ihr schon gesagt wurde. Im Klinikum müssen gerade etliche Untersuchungen laufen, mann kann schließlich niemanden entlassen, dem es soweit nicht wirklich gut geht. Selbst meine Nervosität macht mich nervös. Ich muss irgendetwas tun. 

"Papa?", ruft mich Violetta. "Ja?", antworte ich ihr. "Wenn du auch nur noch eine Minute länger hier hin- und herläufst... Sollen wir nicht vielleicht etwas singen? Das hilft dir bestimmt!", bietet sie mir an. Ich kann gar nicht anders, als ihren Vorschlag anzunehmen. Und tatsächlich, das Singen mit meiner Tochter hilft mir, meine wirren Gedanken etwas zu sortieren und wenigstens ein kleines bisschen zur Ruhe zu kommen. "Helfen wir Angie bei ihrem Umzug?", will meine Tochter wissen, als wir schließlich unserem Gesang unterbrechen. "Nein, auch wenn ich wirklich gerne helfen würde. Meine Argumente wurden mit zwei Gegenargumenten niedergeschmettert. Erstens: Angie muss alleine klar kommen, wir dürfen nicht zu ihr und ihr somit nicht helfen, da das sonst keinen Sinn macht. Zweitens: Angie hat kaum Sachen, die sie mit in ihre Wohnung nehmen muss, also ist keine Unterstützung nötig. Ich habe da keine Position um mich einzumischen, wer weiß, vielleicht haben sie ja Recht. Ich habe nicht Psychologie studiert, vielleicht kann ich mich deshalb da nicht so reinversetzen", antworte ich meiner Tochter ehrlich und seufze. Mir tut der Gedanke im Herz weh, wie Angie morgen plötzlich alleine vor ihrer alten Existenz steht und alleine bleiben wird. In jeder Ecke ihrer Wohnung lauern Erinnerungen auf sie, die sicherlich nicht alle von guter Natur sind. Wie wird sie reagieren? In ihrer Wohnung sind keine Kameras, sie ist nicht mit Mikrofonen ausgestattet, keiner weiß, was sie da drinnen tut, was sie im schlimmsten Fall sich antut. Ich denke, das ist, was mich verrückt vor Sorge sein lässt. Im Klinikum wusste ich die Ärzte und Schwestern um sie, jetzt ist sie vollkommen auf sich alleine gestellt! Für eine ganze Woche! "Papa, es wird schon alles gut gehen", beruhigt mich Violetta. Sie muss mir meine Gedanken von meinem Gesicht abgelesen haben. Ich ringe mich zu einem Lächeln. "Ich weiß. Wir werden diese eine Woche schon reibungslos hinter uns bringen und dann fliegen wir mit Angie, Olga, Ramallo und Lucia zurück nach Buenos Aires in unser neues altes Leben. Klingt das nicht verlockend?", antworte ich. Violetta nickt. "Angie wird das schaffen, da bin ich mir sicher. Also glaub auch daran", fordert sie mich auf. "Ich glaube an Angie mindestens so sehr wie an dich. Ihr beide seit die stärksten Menschen auf der ganzen Welt!", verspreche ich hier. "Und du gehörst da auch dazu! Überleg einfach mal in Ruhe, was du alles aufgegeben hast, um Angie zu helfen!", bestärkt sie mich und umarmt mich. "Wir können so stolz auf uns sein!", murmele ich leise in Violettas Schulter. 

Schließlich wird es Abend, dann Nacht. Es ist spät, als ich mich endlich in mein Bett lege. Ich bin erschöpft, aber meine Augen wollen einfach nicht zufallen. Als es endlich geschieht, hat der nächste Tag schon längst angefangen. 

Mich weckt der Duft von Kaffee und Olgas grelle Stimme. "Senior German! Frühstück ist fertig!", hallt es durch die komplette Wohnung. Ich reibe mir den Schlaf aus den Augen. Trotz meines tiefen Schlafs fühle ich mich wie gerädert. Ein guter schwarzer Kaffee kann da wohl nicht schaden. Ich ziehe mich rasch um und folge dem Kaffeeduft an einen reich gedeckten Frühstückstisch. Während des gesamten Essens zwinge ich mich dazu, nicht zu lange und nicht zu intensiv an Angie zu denken. Ich darf sie eine ganze Woche nicht sehen, ich werde nicht wissen, wie sie sich fühlt oder gar was sie tut. "Papa?", holt mich meine Tochter aus meinen Tagträumen. Ich wende mich ihr zu. "Was hälst du von etwas Sightseeing? Ich habe von Paris bisher kaum etwas gesehen und wenn wir schon einmal hier sind? Außerdem ist das sicherlich eine gute Möglichkeit um dich von deinen tristen Gedanken abzulenken, was denkst du?", unterbreitet sie mir ihren Vorschlag. Ich bin einverstanden, vielleicht hat sie Recht. Wenn wirklich etwas passiert, wird sich schon jemand bei mir melden und diesen Tag sollte ich endlich mal wieder mit meiner Tochter verbringen. 

Wir vier verwandeln uns in echte Pariser Touristen, besichtigen jegliche Sehenswürdigkeiten, testen uns durch die französische Küche und genießen die warmen Sonnenstrahlen mit einem Baguette in der Hand auf der Brücke Pont Neuf. Mitten in dieser Idylle klingelt mein Handy. Eine unbekannte Nummer. "Ja?", melde ich mich. "Hier ist Monsieur Bouvier, ich dachte mir, Sie wollen bestimmt wissen, wie es Mademoiselle Carrara geht", beginnt er. "Sie ist jetzt in ihrer Wohnung, alles ist gut gelaufen. Ich bitte Sie, halten Sie sich an unsere Vereinbarung, es ist wichtig, dass sie alleine ist. Um sicherzustellen, dass es ihr gut geht, werde ich persönlich übermorgen bei ihr vorbeischauen. Wenn Sie das wünschen, können Sie dann kurz mit ihr sprechen, ich werde Sie anrufen und Mademoiselle Carrara das Handy geben, dass sie beide telefonieren können. Es tut mir wirklich leid, aber es ist wichtig für die Behandlung, dass Ihre Freundin lernt alleine wieder selbstverantwortlich zu leben", fasst er zusammen. "Vielen vielen Danke, ich verstehe", verabschiede ich mich und lege schließlich auf. 

Das werden zwei weitere nervöse, unwissende Tage, aber ich bin mir sicher, dass Angie die Zeit meistern wird. Sie ist eine starke Frau und gerade voller Hoffnung, dass sie ihr eigenes Leben wieder aufnehmen kann, wieso also sollte sie etwas aufs Spiel setzen? Sie weiß worum es geht, sie weiß ganz genau wie hoch der Einsatz ist, aber ich vertraue ihr. Sie wird das Richtige tun, sie wird die Woche ohne Probleme überstehen und dann sitzen wir schon im nächsten Flugzeug. Ich kann es schon vor mir sehen. Endlich.  

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