25. Kapitel: German

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Ich habe nicht lange gebraucht, um Violetta davon zu überzeugen, dass ich ich zurück zu Angie nach Paris muss. Dass meine Tochter sich schreckliche Sorgen um ihre Tante macht, ist unverkennbar. Doch hier hat sie ihre Freunde, die sie von ihren Sorgen ablenken und sie hat ihre Musik. Dieses Mal bleibt sie hier in der Obhut von Ramallo und Olga. Ich habe Schuld daran, dass Angie in der Klinik ist, das kann ich nicht abstreiten und so ist es meine Aufgabe, alles so gut wie ich kann wieder gerade zu biegen. Koste es mich, was es wolle, ich werde nicht dabei zuschauen, wie Angie kaputtgeht. 

Am nächsten Tag sitze ich schon im Flugzeug. Ich habe Violetta und Pablo versprochen, mit ihnen in Kontakt zu bleiben. Ich schaue aus dem kleinen Fenster und sehe wie Buenos Aires unter mir immer kleiner wird. Ich bin schon so oft geflogen, zu Geschäftsterminen, Meetings, in den Urlaub oder eben mit Violetta nach Paris, aber dieser Flug ist anders. Vielleicht liegt es daran, dass ich innerlich weiß, dass Angies Schicksal mehr oder weniger von meinen Handlungen abhängt, vielleicht auch daran, dass Angie mich sicherlich nicht sehen will oder einfach daran, dass ich Angst habe. Angie ist ein so wichtiger Teil der Familie, ich kann sie nicht verlieren. Ich vermisse ihre strahlenden blauen Augen, ihr herzliches Lachen, ihre sanfte Stimme und sogar die kleinen Kabbeleien zwischen uns. Ich habe ein verdammt großes Ziel im Visier, eigentlich ist es zum Scheitern verurteilt, aber kampflos aufgeben? Ohne mich. Ich muss Angie zeigen, wie wichtig sie für uns ist, dass sie nichts kaputt macht, wie sehr wir sie brauchen. Die Musik muss zu ihr finden, sie muss zu ihrer Nichte finden. Wie ich das schaffen soll, ist mir mehr als schleierhaft. 

Ich habe mich in die kleine Wohnung eines guten Freundes eingemietet, er ist gerade auf Geschäftsreise in Italien und hat mir die Wohnung freudig überlassen. Nach einem langen und gedankengefüllten Flug nehme ich mir ein Taxi und fahre in die Wohnung. Sie ist klein, aber perfekt. Das Konzept ist vermutlich von einem sehr guten Innenarchitekten, die Farben ergänzen sich perfekt und das ganze Zimmer ist lichtdurchflutet. Müdigkeit macht sich langsam in meinen Gliedern bemerkbar und so gehe ich schlafen.

Ich wache früh auf und bin sofort hellwach. Schnell ziehe ich mich an und gehe aus der Wohnung. In einer Bäckerei um die Ecke kaufe ich ein ein himmlisches Brötchen, welches ich gleich verspeise. Mein Weg führt mich zielstrebig ins Klinikum. Die hohen Wände sind ziemlich bedrückend, alles wirkt matt. Ich straffe meine Schultern und öffne die Tür. An Angies Zimmer kann ich mich noch ganz genau erinnern und so nehme ich den Aufzug und fahre in das Stockwerk. Der Flur ist wie leergefegt als ich den Gang bis zu Angies Zimmertür entlang laufe. Die Tür ist verschlossen. Wieso denn das? Wieso sperren die Ärzte Angie in ihrem Zimmer ein? Hilfesuchend schaue ich mich auf dem breiten Flur um und entdecke ein Schwesternzimmer, in welchem zwei Schwestern eine Tasse Kaffee trinken. "Entschuldigung", mache ich auf mich aufmerksam. Die beiden Frauen drehen sich zu mir um. "Wie kann ich Ihnen helfen, Monsieur?", erkundigt sich die Braunhaarige. "Ich suche meine Schwägerin, Angeles Carrara, sie lag hier auf einem Zimmer, aber nun ist die Tür verschlossen", erkläre ich ihr meine Situation. "Ihre Schwägerin ist verlegt worden", erklärt die Schwester. "Nehmen Sie den Aufzug und fahren Sie noch zwei Stöcke höher, die Schwestern dort können Ihnen dann die genaue Zimmernummer sagen. Fragen Sie nach Schwester Lucia, ich glaube, sie ist für Mademoiselle Carrara verantwortlich", hilft sie mir. "Vielen Dank", sage ich leicht verwirrt. "Nicht dafür", antwortet die Schwester und widmet sich wieder ihrem Kaffee.

Wieso wurde Angie verlegt? Das Zimmer scheint unbewohnt zu sein, an Platzmangel kann es ja nicht liegen. Lucia, das ist die Frau, mit der ich kurz telefoniert hatte. Sie schien mir ganz nett zu sein, vielleicht kann sie mir ja auf die Sprünge helfen. Ich fahre die beiden Stockwerke hinauf und trete aus dem Aufzug hinaus. War das vorhin still und leer, dann ist das jetzt totenstill und wie leer gefegt. Die unheimliche Stille wurde nur durch das sekündliche Ticken einer Wanduhr unterbrochen, die sich in ihrem grellen Orange von dem ganzen Weiß abhebt. Auch hier gibt es ein Schwesternzimmer, in dem sich eine Schwester aufhält. "Entschuldigen Sie, ich suche Schwester Lucia", unterbreche ich die Stille. Die blonde Schwester antwortet langsam:" Ich glaube sie ist gerade bei ihrer Patientin." Ihre Patientin, das kann nur Angie sein! Bin ich ihr gerade so nah? "Ist das Angeles Carrara?", hake ich nach. "Ärztliche Schweigepflicht, keine Herausgabe persönlicher Angaben", antwortet die Schwester ohne jegliche Gefühlsregung. "Sie ist meine Schwägerin, mein Name ist German Castillo", antworte ich ihr ungeduldig. Ich möchte nur noch mit dieser Lucia sprechen, einen Moment mit Angie alleine sein und ihr helfen. Die Schwester schaut mich schief an murmelt dann aber:" Okay, ja, Mademoiselle Carrara ist ihre Patientin. Lucia wird erst einmal keine Zeit für sie haben und ihre Schwägerin auch nicht, die beiden sind gerade beschäftigt. Mademoiselle Carrara hat es mit dem Sport treiben etwas übertrieben. Aber so sind sie alle hier, ein Laufband und schon stehen sie Schlange." Kann man denn so ohne Mitgefühl sein? Der gelangweilte Ton dieser Frau dreht mir den Magen herum, man kann doch nicht so über seine Patienten sprechen! Aber anscheinend sind auf dieser Station viele mit einer Essstörung wie Angie. Ist Angie echt auf dem Laufband gewesen und hat sich über ihre Grenzen hinaus katapultiert? "Haben Sie eventuell einen Stift und ein Blatt Papier?", frage ich die mir sehr unsympathische Schwester. Diese nickt widerwillig und schiebt mir einen Kugelschreiber und einen Block hin. Ich zögere kurz, dann verfasse ich eine Nachricht.

Liebe Angie, ich war in Buenos Aires, aber mit der Ungewissheit, wie es dir wohl gerade geht, konnte ich nicht leben. Ein guter Freund von mir wohnt hier in der Nähe und so bin ich wieder hier. Keine Sorge, Vilu ist bei Olga, Ramallo und ihren Freunden und amüsiert sich prächtig. Ich werde dir das gerne noch einmal  persönlich sagen, aber ich möchte, dass dir folgendes klar ist: Du bist wichtig! Keiner von uns ist ohne Fehler, das geht gar nicht, das macht jeden von uns einzigartig, jeder ist eine Überraschung. Und du warst für mich immer eine besonders tolle Überraschung. Ohne dich würden sich Vilu und ich uns nicht so nahe sein, wir wir es aber sind, ohne dich hätte Vilu ihre Leidenschaft zur Musik nicht leben können, ohne dich wäre ich ein anderer Mensch. Du hast mein Leben verändert und nun ist es an der Zeit, dass ich Dein Leben verändere. Du bist so unfassbar stark, glaube so sehr an dich, wie wir alle an dich glauben. Wenn du willst, kannst du alles schaffen! Ich stehe hinter dir und unterstütze dich bei allem, das du tust. German

Ich falte den Brief und übergebe ihn der Schwester. "Geben Sie ihn bitte an Angie oder Schwester Lucia. Es ist wichtig." Diese nickt und meint:" Sie sind in Ordnung." 

Hoffentlich hilft der Brief Angie sich zu erinnern, an all die schönen Dinge, an all das Positive. Ich kann sie nicht verlieren, ich brauche sie. Und sie braucht mich. Wann wird sie das nur endlich einsehen?


Germangie-DownWo Geschichten leben. Entdecke jetzt