93. Kapitel: German

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Lucia hat mir die ganze Zeit einfach zugehört, kein Wort gesagt und sich keine Reaktion anmerken lassen. Ich fühle mich merkwürdig erleichtert, endlich habe ich jemanden gefunden, dem ich von meinen Sorgen um Angie erzählen kann, jemanden, der mich versteht und mich unterstützt. Der Nachhall meiner letzten Worte schwebt noch immer im Raum. Lucia betrachtet mich aus ihren jadegrünen Augen nachdenklich, verfolgt jeder meiner unruhigen Bewegungen und sagt doch kein Wort. Ich verstehe, wieso Angie sich Lucia als Vertraute ausgesucht hat. Lucia erinnert mich zeitweise sehr an sie, beide sind starke, selbstbewusste Frauen, die sich charakterlich sehr ähneln. Nur scheint Lucia der selbstzerstörerische Drang, den ich bei Angie immer wieder mit Sorgen erkenne, zu fehlen. 

Die Stille wird mir zu unangenehm, ich halte es hier nicht mehr aus. Ich habe Schritte gehört, Angie muss also schon in ihrem Bett liegen und schläft vermutlich längst. Nach so einem anstrengenden Tag, hat sie das auch mehr als verdient. Ich denke, ich werde nie vergessen, wie sie in meinen Armen zusammengebrochen ist. Und so schlecht das auch klingen mag, ich bin beinahe dankbar für ihren Zusammenbruch. Er hat mir vor Augen geführt, dass auch meine Kräfte nicht unendlich sind. "German, du bist an nichts Schuld, du trägst keinerlei Verantwortung", dringen Lucias Worte an mein Ohr. "Doch, genau so ist es. Ich könnte mir niemals verzeihen, wenn Angie etwas zustößt, wenn sie sich gar etwas antun würde. Sie bedeutet mir die Welt, ich kann nicht einfach loslassen und mich von ihr entfernen. Sie braucht mich und ich brauche sie. Es mag eine andere Art von Liebe sein, als man sich gewöhnlich wünscht, aber es ist Liebe. Ich liebe Angie und ich kann sie nicht gehen lassen", antworte ich beinahe flehend. Und ich merke in dem Moment, in dem ich die Worte ausspreche, dass ich die Wahrheit spreche. Die Worte kommen aus meinem Herzen. Ich liebe Angie und ich weiß, dass sie mich auch liebt. "German, deine Worte berühren mich sehr. Und trotzdem, ich habe das oft genug miterleben müssen. Bitte höre mir gut zu. Du gehst genauso kaputt wie Angie, wenn du nicht aufhörst, dir ständig solche Sorgen zu machen. Ich weiß, das ist schwer und mir liegt Angie ebenfalls sehr am Herzen. Sie ist sich nicht bewusst, was für Auswirkungen es auf dich hat, wenn es dir schlecht geht und ich bin der Meinung, dass das nicht einmal du selbst weißt. Versprich mir, dass du auf dich aufpasst. Tu es für dich und für deine Tochter. Versprochen?", bittet sie mich. "Versprochen", antworte ich. "Und jetzt sollten wir alle schlafen gehen, es ist spät und die Tage werden wohl noch lange nicht leicht", murmelt sie leise. Auch wenn sie versucht, es sich nicht anmerken zu lassen, die Situation belastet sie genauso sehr wie mich. Angie ist ihre Freundin, wie muss es sich anfühlen, wenn sie dabei zusehen muss, wie sie sich kaputt macht, wenn Lucia ihr doch eigentlich aus der schwierigsten Phase heraus geholfen hat?

Ich zögere an der Tür vor meinem Schlafzimmer. Ich bin mir sicher, dass Angie darin liegt und tief und fest schläft. Vielleicht wäre es die bessere Option, im Gästezimmer zu schlafen? Angie hat sich ihren Schlaf verdient und ich möchte sie nicht aufwecken, falls ich im Dunkeln gegen den Schrank oder Ähnliches laufe. Mein Entschluss leuchtet mir ein und so mache ich mich auf den Weg in das Zimmer und ziehe mich um. Kaum liege ich jedoch in dem Bett, fangen meine Gedanken an im Kreis zu fahren. Angies Tränen. Ihr Geständnis, dass sie nicht mehr kann. Ihr ständiges Verlangen danach, ihre Emotionen vor allen zu verstecken. Ihre Sorgen. Lucias Sorgen um Angie und um mich. Meine Tochter. Ihr Blick, als sie ihre Tante am Boden entdeckt hat. Monsieur Bouviers Versprechen in Paris. Es war alles so vielversprechend, ich war mir so sicher, dass endlich alles gut werden wird. Wir haben gemeinsam so viele große und kleine Schritte nach vorne gemacht, Angie hat es nach außen hin geschafft, sich von ihrer Vergangenheit abzuwenden. Alles nur eine Show? Oder war da doch etwas Wahres dran? Wieso hat das niemand kommen sehen, wieso konnte das niemand verhindern? Was hat sich Angelica nur dabei gedacht, einfach aufzutauchen? Wieso fühlt sie sich überhaupt so? Was verleitet eine Frau dazu, ihrer eigenen Tochter Schmerz zuzufügen, egal ob psychisch oder physisch? Alles Fragen, die sich vermutlich niemals werden klären können. Aber das Leben geht weiter. Es hält nicht an, nur weil es im Hause Castillo ein paar schwerwiegendere Probleme gibt. Morgen geht die Sonne wieder auf und wir begegnen uns alle bei einer Tasse Kaffee und meistern den nächsten Tag. Weil wir keine andere Wahl haben. Weil das Leben nicht auf uns wartet. Und mit diesem Gedanken schlafe ich ein. 

Ich bin früh wach. Irgendetwas hindert mich an einem tiefen und langen Schlaf. Aber ich kann nicht einschätzen, woher das Gefühl kommt. Es beunruhigt mich, ich wälze mich in meinem Bett hin und her, werfe das Laken von mir und stehe auf. Mein Magen knurrt und ich tapse an das Fenster, ziehe den Vorhang zur Seite und lasse das grelle Sonnenlicht in das Zimmer scheinen. Es blendet mich und ich kneife meine Augen zusammen, aber weiche nicht einen Schritt zur Seite. Was macht mich so nervös? Habe ich eine Vorahnung von irgendetwas? Ich schüttele den Kopf. Jetzt fängt es dann wohl an. Aber wenn ich schon einmal wach bin, kann ich mich auch nützlich machen. Ich ziehe mich an und gehe dann auf leisen Sohlen in mein Büro, setze mich an meinen Laptop und kümmere mich um ein paar Geschäfte. Doch ich bin nicht mit ganzem Herzen an der Sache dran. Ständig schweifen meine Gedanken ab, ich kann mich kaum konzentrieren. Irgendwann ruft Olga zum Frühstück. Violetta sitzt bereits am Tisch und strahlt mich an. Wie von selbst erblüht am Tisch eine lebhafte Konversation. Bis mir auffällt, dass Angie gar nicht mit am Tisch sitzt. Ob sie wohl noch schläft? Nach dem Tag gestern wäre das selbstverständlich. Und trotzdem lässt mich der Gedanke nicht ruhen. Kommt das Unruhe-Gefühl wegen Angie? Ist etwas passiert? Meine Tochter erzählt Lucia gerade amüsante Dinge aus der Vergangenheit und hat somit meinen Stimmungsumbruch vermutlich nicht einmal bemerkt. Ich entschuldige mich und eile die Treppe hinauf. 

Wenn Angie noch immer tief schläft, wird sie mich vermutlich nicht einmal bemerken. Aber ich kann nicht gelassen Witze erzählen, wenn ich keine Gewissheit habe. Ich nehme meinen Mut zusammen und öffne die Zimmertür. Das Zimmer ist lichtdurchflutet, die Vorhänge sind offen, das Bett unbenutzt. Keine Spur von Angie. Sie scheint nicht hier gewesen zu sein. Wo hat sie geschlafen? Und wo ist sie jetzt? Ist ihr etwas passiert? Habe ich deshalb dieses merkwürdige, beunruhigende Gefühl in mir? Weil Angie etwas passiert ist? Weil es jetzt zu spät ist, um etwas zu tun? Oder habe ich noch eine Chance? Ein letzte Chance um zu beweisen, dass alles wieder gut werden wird? Vielleicht ist meine Unruhe auch nur ein Signal, dass Angie mich braucht. Vielleicht ist ja alles halb so wild. Ich muss daran glauben, dass alles gut ist und alles gut wird. Dass es ihr gut geht. Wo verdammt nochmal ist Angie?

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