27. Kapitel: German

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Ich bin nervös. Nun stehe ich hier, circa 5 Meter von der Tür zu Angies Zimmer entfernt. Und somit knappe 5 Meter von ihr entfernt. Diese Schwester, Lucia, ist eben in ihr Zimmer gegangen um Angie von meiner Anwesenheit zu berichten. Wird sie sich freuen oder das Gespräch blockieren? Es ist so schwer geworden ihre Reaktionen auf gewisse Dinge abzuschätzen. Was macht Lucia denn so lange bei Angie im Zimmer? Müsste sie denn nicht schon längst wieder da sein und mich herein bitten? Wenn das so lange dauert, kann es nur eines bedeuten: Angie will mich nicht sehen. Was habe ich ihr denn überhaupt getan? Okay, das mit Jeremias war ein Fehler und dass ich Angie mit Esmeralda sehr verletzt habe ist auch nicht das Gelbe vom Ei, aber langsam verstehe ich sie nicht mehr. Ich werde sie nie loslassen können, ich kann mir einfach nicht vorstellen jetzt zu gehen, aber es macht es so kompliziert für sich da zu sein, ohne zu wissen, was überhaupt genau los ist. Wie kann ich Angie stützen, wenn sie mich immer fortweist? Ungeduldig beginne ich hin und her zu laufen. Ich erwarte ja nicht von Angie, dass sie mir sofort um den Hals fällt, alles vergisst und zurück nach Buenos Aires kommt, mir ist bewusst, dass vor uns ein langer Weg liegt, aber ein Gespräch mit mir ist doch vollkommen harmlos. 

Die Tür zu Angies Zimmer öffnet sich und ich bleibe erschrocken stehen. Wie hat Angie sich entschieden? Lucia kommt mit ausdrucksloser Miene zu mir herüber. "Sie können kurz zu ihr. Ehrlich gesagt, eigentlich wollte Angie Sie gar nicht sehen, aber ich bin mir sicher, dass es ihr gut tun würde, Sie zu sehen", erklärt sie mir. Okay, also erwartet mich eine mürrische Angie, die eigentliche gar keine Lust auf Gespräche hat. Super. "Sie sind zusammen, oder?", fragt Lucia sichtlich interessiert. Ich räuspere mich:" Nein, Angie ist meine Schwägerin. Ihre Schwester, meine Frau ist vor einiger Zeit bei einem Unfall verstorben. Angie wollte meine Tochter unbedingt kennen lernen, so sind wir uns nach langer Zeit wiederbegegnet." Lucia schaut mich auf eine merkwürdige Weise an, als würde sie mir über meine Augen in meine Seele blicken und all meine Geheimnisse wissen könnte. "Sie lieben Angie", stellt sie trocken fest. "Es ist viel passiert. Ich weiß nicht, was wirklich ist. Ich weiß nicht einmal, ob Angie mich überhaupt noch leiden kann", erwidere ich verlegen. "Sie dürfen nicht aufgeben. Denken Sie an die Kraft der Liebe. Und seien Sie sicher: Angie empfindet ebenso für etwas für Sie. Sie weiß nur nicht, wie sie damit umgehen soll. Beweisen Sie ihr, dass Sie es ernst meinen und Sie werden merken, dass ich Recht behalte", meint Lucia und verschwindet lautlos den Gang hinunter. Ich ertappe mich dabei, wie ich ihr hinterherschaue. Hat sie tatsächlich Recht? 

Ich gebe mir einen Ruck und trete in das Zimmer ein. Mein erster Blick geht aus dem Fenster. Bald wird die Sonne untergehen, der Himmel ist von zartrosa Wolken  umgeben und die Sonne leuchtet nur noch blass hinter den bunten Schlieren hervor. Es ist ein wundervolles Schauspiel. Auch Angie starrt aus dem Fenster. Leider vermutlich eher, um mir nicht in die Augen sehen zu müssen. "Ich soll dir liebe Grüße von Vilu, Olga, Ramallo, Pablo und Antonio ausrichten. Sie vermissen dich alle sehr", beginne ich vorsichtig. Keine Veränderungen in ihrer Miene. "Das ist lieb von ihnen", antwortet Angie. Emotionslosigkeit spricht aus ihrer Stimme. "Erzähl mir etwas über dich", fordere ich sie auf. Ich muss vorsichtig sein, aber wenn ich nur ein bisschen Small Talk rede, bringt mir das im Endeffekt nichts. Angie dreht ihren Kopf zu meinem Gesicht. "Was gibt es da groß zu erzählen, German. Ich bin hier, durchlaufe ein paar Untersuchungen, trinke Tee, habe Angst. Ich..", beginnt sie. Ein Zittern durchläuft ihren Körper. Ich glaube sie hat mehr gesagt, als sie wollte. Vor was soll sie denn Angst haben müssen? Es gibt kaum sicherere Gebäude als Krankenhäuser, hier kann ihr geholfen werden. Aufmerksam betrachte ich Angie Gesichtszüge. Ihre Augen wirken gleichzeitig trüb als auch glänzend, als würde sie unter ihrer Maske an Ausdruckslosigkeit ihre Tränen verbergen. Das stumpfe blonde Haar fällt ihr auf einer Seite über ihre Wange. Mit ihrer schmalen Hand steckt sie es sich immer wieder hinter die Ohren, doch die Strähne rutscht wieder vor. Ich wage es:" Vor was Angie? Vor was hast du solche Angst? Ich bin nicht blind, ich sehe, dass dich etwas belastet. ich bin hier um dir zu helfen, nicht um dir zu schaden, verstehst du?" Angie sieht mich hilflos an. Sie scheint sich schließlich einen Ruck zu geben und beginnt vorsichtig:" Ich habe Angst vor mir. All das hier, Krankenhaus, Frankreich, EKG, keine Ahnung, all das ist mir egal, es gehört irgendwie dazu. Zu mir. Zu dem, was ich getan habe. Ich komme einfach nicht klar, ich mache alles kaputt. Wie so eine hochexplosive Handgranate, keine Ahnung. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich die leuchtenden Augen von Violetta, wie sie auf der Bühne steht und singt. Aber dann sehe ich sie hier, traurig, am Ende. Ich sehe Pablo, wie er mich nach einer erfolgreichen Show aus überschüssiger Freude mit leuchtenden Augen umarmt, aber dann sehe ich ihn in meiner Wohnung. Ich sehe dich, mit leuchtenden Augen, als du mir von deiner Verlobung erzählst, aber dann sehe ich dich in diesem Moment vor mir. Traurig, ratlos, verzweifelt. Diese Zeit der leuchtenden Augen wurde von einem aber dann eingeholt, welches einzig und allein mir zu verdanken ist. Verstehst du?" Ich habe mich noch nie in meinem Leben so leer gefühlt. Nicht einmal nach dem Tod von Maria, irgendetwas hat Angie gerade ausgelöst. Wie soll ich ihr klar machen, dass sie nicht getan hat? Das kann ich nicht, so schwer es mir auch fällt zu akzeptieren. So gerne möchte ich sie jetzt in den Arm nehmen, ihr beruhigend über den Rücken streichen, ihr etwas Tröstliches in das Ohr flüstern. Sie würde mich fortstoßen. "Du bist nicht alleine, meine Liebe." Etwas Besseres fällt mir einfach nicht ein. Angie hat wieder ihre abwehrende Körperhaltung eingenommen, das Gesicht gesenkt, aber ausdruckslos. Die Maske steht wieder. Ihr Verhalten zeigt, dass sie mich hier gerade nicht sehen will. Sie hat Recht. Niedergeschlagen verlasse ich den Raum, schließe die Tür und bleibe mit dem Rücken an der Wand stehen. Leuchtende Augen. Ein unschuldiger Kuss in der Küche, der zwei Leben auf den Kopf gestellt hat. Zart, aber wahre Gefühle. Der Beginn eines Verstecksspieles vor den eigenen Gefühlen. Ein unmögliches Unterfangen. Gegen die Liebe kann man sich nicht wehren. Was muss passieren, bevor Angie das begreift? Ist es bis dahin schon zu spät?

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