63. Kapitel: German

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Ich drehe gleich durch. Ich hätte Angie nicht gehen lasse dürfen, wie konnte ich nur! Unbewusst balle ich meine Hände zu Fäusten. Tief einatmen. Ich zwinge mich ruhig zu atmen. Angie ist erwachsen, sie kann auf sich selbst aufpassen, sie braucht keinen Wachhund. Doch, den braucht sie, was ist, wenn ihr Herz jetzt vor lauter Aufregung nicht mehr kann? Dann ist niemand bei ihr, der ihr helfen kann und keiner weiß, wo sie genau ist. Wie konnte ich nur... 

"Senior German, was hat denn Angeles?", fragt Olga, die mit Ramallo gerade die Tür zu Angies Zimmer aufgestoßen hat. "Sie ist an uns vorbei gerannt, als sei der Teufel hinter ihr her. Hat das etwas mit Vilu zu tun?", hakt sie nach. Ich fahre mir mit der Hand durch die Haare. Nur nicht verzweifeln, German. Immer weiter atmen, Angie wird nichts passieren, sie ist kein Kind mehr. Ramallo macht einen Schritt auf mich zu und leg mir eine Hand auf den Oberarm. "Machen Sie sich keine Sorgen, German. Angie weiß auf sich aufzupassen", versucht er mich zu beruhigen. "Nein!", fahre ich ihn an. "Angie ist vollkommen aufgelöst und überstürzt weggelaufen, sie hat keine Ahnung was sie tut! Was, wenn ihr Herz aufhört zu schlagen? Ich muss sie finden!" "Wenn Sie jetzt blindlings draußen herumrennen, werden Sie Angie auch nicht finden. Vertrauen Sie Angie", beschwört er mich. Ha, Vertrauen. Natürlich vertraue ich Angie, aber wie weit kann man einem Menschen trauen, der nicht weiß, was er tut und noch dazu in einem emotionalen Ausnahmezustand ist? Wie kann ich nur hier sein und Däumchen drehen, während Angie da draußen herumstreunt? Olga muss mir meine Sorgen angesehen haben. "Senior German, setzen Sie sich, ich hole erst einmal eine Tasse Tee und dann überlegen wir uns gemeinsam, wie wir jetzt vorgehen. Ramallo, pass auf, dass er nicht wegläuft", befiehlt sie. Ramallo huscht angesichtlich Olgas Tonfall ein Lächeln über die Lippen. Ich setze mich tatsächlich, aber zwischen Ramallo und mir herrscht bitteres Schweigen, welches mir mehr als unangenehm ist. Wir wissen beide nicht, was wir reden sollen, unsere Gedanken hängen irgendwo bei Angie und bei den verschieden gefährlichen Möglichkeiten, was ihr alleine draußen passieren kann. Und was ist mit meiner Tochter? Violetta läuft ebenfalls dort herum und im Gegensatz zu Angie war sie noch nie wirklich in Paris, zumindest nicht solange, dass sie sich hier auskennt, im Gegensatz zu Angie. Wie habe ich nur vergessen können, über meine eigene Tochter nachzudenken? 

Olga hat es tatsächlich geschafft, drei Tassen grünen Tee zu besorgen, den wir alle hastig trinken, ungeachtet der Tatsache, dass die kochende Flüssigkeit an Zunge und Gaumen schmerzt. Uns allen ist die Situation unangenehm, nicht einmal Olga hat Lust ein paar Witze zu machen und starrt abwesend in ihre Tasse. "Ich hätte nicht zustimmen dürfen, dass Vilu nach Paris fliegt", beginnt Ramallo und schaut mehr als schuldbewusst drein. "Wir hätten wissen müssen, dass die Situation weder für Angie noch für Violetta leicht werden wird und trotzdem habe ich zugestimmt und sofort die Tickets gebucht. Sie war so glücklich, ich wollte ihr ihre Hoffnung nicht stehlen", fährt er fort. Nervös zupft er sich an seinem perfekt sitzenden Anzug. "Hör auf, Ramallo, das ist nicht wahr", werfe ich ein, doch Olga unterbricht mich. "Wieso?", fragt sie nur und wieder übernimmt das Schweigen. Die Atmosphäre im Raum ist beängstigend, kühl, nervös. "Ich mache mir solche Sorgen um Angeles und Vilu, da tobt ein Unwetter, das ist beängstigend!", murmelt Olga leise vor mich hin. Ich springe von meinem Stuhl auf und stürze ans Fenster. Als ich die dicken weißen Vorhänge beiseite gezogen habe, verstehe ich Olgas Sorge. Was vorher noch ein leichter Regen war, hat sich jetzt zu einem tobenden Unwetter zusammengebrodelt, das als große schwarze Wolke den gesamten Pariser Himmel einnimmt. Blitze zucken beinahe im Sekundentakt über den Himmel und erhellen die dunklen Kieswege vor der Klinik auf mysteriöse Art und Weise. Der tiefe Bass des Donners geht mir durch Mark und Bein. Wieso? Zwei Menschen, die mir soviel bedeuten, die mir alles auf der Welt bedeuten, sind in diesem Ungewitter alleine draußen unterwegs. Wie soll ich da nur ruhig bleiben? Blitzschnell ist mein Entschluss gefasst.

Ich stürme aus dem Zimmer und lasse Olga und Ramallo alleine sitzen, ihre Rufe ignoriere ich weitgehend. Ich schnappe mir meine Jacke und ziehe sie während des Laufens über. Meine Gedanken sind ruhig, ich fühle mich gerade so klar, dass das mir eigentlich Angst machen sollte, aber ich bin nicht in der Lage, darüber länger nachzudenken. Kopflos und doch so klar renne ich durch die Klinik, die Blicke der Schwestern, Patienten und Ärzte ausblendend. Ich bin kurz vor der Eingangstür, als sie mir jemand in den Weg stellt. Ich ramme meine Füße in den Boden, damit ich die Frau, die sich mir in den Weg gestellt hat, nicht umrenne. Es ist Lucia. "German, da möchte sie jemand sehen", meint sie und zieht mich, ohne eine Antwort abzuwarten in die Cafeteria. "Papa, sei mir nicht böse!", ruft meine Tochter und wirft sich mir in die Arme. Ihre Kleidung ist feucht, nicht nass, lange kann sie also nicht draußen gewesen sein. "Ich hätte nicht so mit Angie reden dürfen, es tut mir so wahnsinnig leid! Ich habe es nur nicht mehr ausgehalten, Tag um Tag immer so zu tun, als wäre alles in Ordnung! Das ist mir allein in Buenos Aires kaum gelungen. Sag, ist sie sauer auf mich?", erkundigt sie sich schuldbewusst. Ich winde mich vor der Antwort, aber ich muss ihr die Wahrheit sagen. "Sie ist weggelaufen, kaum dass du gegangen bist. Sie ist aus der Klinik raus, mitten in dieses Unwetter. Es ist nicht deine Schuld", erkläre ich möglichst sanft, auch wenn ich weiß, dass meine Worte sie nicht beruhigen werden. Ein Schluchzer bestätigt meine Vermutung. Lucia nimmt Violetta sanft in den Arm. "Ich werde Angie finden, das verspreche ich euch", schwöre ich um alle zu beruhigen, vor allem, um mich zu beruhigen. "Verdammt, German, du musst das nicht tun. Lass und die Polizei verständigen, uns fällt schon etwas ein. Hör auf dir einzureden, dass du Angies Lebensretter bist, verstanden? Du riskierst dein Leben wenn du da jetzt einfach rausmarschierst, ist dir das klar? Du hast eine Tochter, die dich nicht verlieren will und Angie würde sicherlich nicht wollen, dass du alles auf eine Karte setzt, also reiß dich zusammen und bleibe hier bei deiner Familie!", fährt Lucia mich mit zusammengebissenen Zähnen an. "Angie ist meine Familie und ich tue alles um für sie da zu sein. Ich kann nicht hier sitzen und nichts tun, mit den Schuldgefühlen, wenn ihr dann etwas passiert, komme ich nicht klar, verstehst du? Ruf die Polizei, aber ich geh jetzt da raus", erkläre ich ihr stur. Ich habe meinen Entschluss längst gefasst. Ich drücke Violettas Arm, die nicht reagiert und stürme entschlossen zur Eingangstür, bevor mich doch noch Zweifel überkommen. Ich muss das jetzt tun, das ist das Einzige, was richtig ist. 

Der Wind peitscht mir ins Gesicht und treibt mir unablässig den Regen in den Nacken, was mich frösteln lässt. Die Blitze erleuchten mir den Weg und ich beginne mit meiner schier aussichtslosen Suche nach Angie, die Person, die mich mehr braucht, als sie jemals zugeben würde, die Frau, der das Wohl anderer wichtiger ist als sie selbst, die Person, die ich liebe. Mein Ziel ist klar.

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Ich melde mich heute mal früher, da ich morgen und am Montag leider nicht da bin und damit ihr keine zwei Wochen warten müsst, bekommt ihr das Kapitel heute schon (; 

Ich hoffe, es gefällt euch und vielen Dank für eure Unterstützung und die lieben Kommentare (:

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