96. Kapitel: Angie

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Weiß. Still. Weiße Stille? Kälte. Was passiert hier? Was passiert mit mir? Warum ist es so kalt hier? Wo bin ich hier? Um mich herum nichts als ein beinahe pulsierendes Weiß. Mir ist so kalt, doch ich zittere nicht einmal. Irgendetwas passiert mit mir und ich kann nichts dagegen tun. Ich möchte auf die Knie fallen und weinen, was ist das alles? Was ist passiert? Ich betrachte meine Beine, meine Arme. Schneeweiße Haut, beinahe gläsern. Doch da, an meinem Handgelenk eine schmale Narbe, die nicht in das Bild passt. Sie glänzt rosa, als wäre sie neu. Plötzlich steigt mir ein Schwindelgefühl in den Kopf, ich schnappe nach Luft, doch der Sauerstoff erreicht nur quälend langsam mein Herz. Ich sinke auf die Knie, dann weicht das eindringliche Weiß tiefer Schwärze.

"Geben Sie Adrenalin und Volumen, wir verlieren sie!", nehme ich am Rand eine Stimme war. Adrenalin? Volumen? Was soll das? "Sie hat zuviel Blut verloren. Wir können nicht mehr viel tun, hoffen wir für das Beste". Wer spricht da? Ich versuche meine Augen aufzureißen, doch es ist, als würden Bleigewichte an meinen Wimpern und Augenlidern hängen, die mich an meinem Vorhaben hindern. "Geben Sie ihr Zeit. Geben Sie sich Zeit." Ein lautes Schluchzen, ein unterdrückter Schrei. Wer weint da und wieso? Ich möchte hingehen und trösten, doch ich fühle mich nicht. Was passiert hier? 

Ich spüre die kalte Glasscherbe in meinen zitternden Fingern. Bin ich bereit dafür? Hat man mir nicht ein Leben lang gelehrt, dass es im Leben immer etwas gibt, für das es sich zu kämpfen lohnt? Will ich das alles, was es auf der Erde gibt wegwerfen? Doch was habe ich hier schon? Ich bin es, die Angst verbreitet, ich bin die Last. Ich mache meinen Mitmenschen das Leben schwer, mich muss man ertragen. Das Leben von German und Violetta könnte und würde so viel leichter sein, wenn sie mich nie getroffen hätten, wenn es mich nicht geben würde. Nehme ich ihnen nicht eine Last ab, wenn ich verschwinde? Für wen oder was lebe ich eigentlich? Es ist nicht fair. Die Entscheidung ist so schwerwiegend und trotzdem habe ich in meinem Herzen das Gefühl, als wäre mir die Antwort längst klar. Und das erschreckt mich. Meine schmalen, blassen Finger krampfen sich um die scharfen Kanten der Scherbe. Eines der spitzen Enden bohrt sich in meinen Finger, ein dunkelroter Blutstropfen tropft auf mein Kleid, bildet einen starken Kontrast. Ein Schauer läuft meinen Rücken hinunter. Meine Entscheidung ist längst getroffen, ich werde mich nicht dagegen wehren, dazu bin ich längst nicht mehr stark genug. Die Würfel sind gefallen. Es ist, als würde plötzlich meine Angst vor den nächsten Momenten versiegen. Als hätte mir der Entschluss über meine Entscheidung hinweg geholfen. Ohne ein weiteres Zögern, ohne einen weiteren Gedanken setze ich die Glasscherbe an meinem Handgelenk an. Ich erhöhe den Druck und ziehe sie über meine Pulsader. Wärme breitet sich in meinem Körper aus. Ich betrachte mein Handgelenk, wie das Blut pulsierend aus der Wunde austritt und dunkelrote Schlieren auf meiner Hand, meinem Arm und meinem Kleid hinterlässt. Das Blut versickert schließlich im Boden. Mein Blick wandert hinauf in den Himmel, hindurch durch die zarten Blüten der knospenden Bäume, hin zu dem morgendlichen Farbenspektakel. Wieso wird mir jetzt so kalt? Ich will die Wärme zurück! Dann werden meine Gedanken zäh und trüb...

"Es tut mir leid, wir mussten sie vorübergehend in ein künstliches Koma versetzen. Wir werden abwarten müssen, ob ihr Körper den hohen Blutverlust ausgleichen kann. Ob oder wann sie aufwacht und ob sie Schäden davongetragen hat, kann noch keiner genau sagen. Morgen wissen wir Genaueres. Bleiben Sie gerne bei ihr, vielleicht hilft ihr das". 

"Du hast eine wunderschöne Schwester, Maria. Sie hat deine Augen und deine Nase", schmunzelt German bei einem gemeinsamen Abendessen mit meiner Familie. Maria ist gerade erst von einer Tournee zurückgekommen und hat sich gewünscht, all ihre Lieben zusammen zu haben. Ich merke, wie mir das Blut in die Wangen schießt. "Sie liebt die Musik genauso sehr wie ich", verkündet Maria stolz und strahlt German an. Ich freue mich für sie, endlich ist sie glücklich. Und trotzdem erwische ich mich dabei, wie ich German verstohlen betrachte. Eine bessere Wahl hätte meine große Schwester nicht treffen können. Das dunkle Haar, das sanfte Lächeln, das Glitzern in den schokoladenbraunen Augen. Er scheint meinen musternden Blick bemerkt zu haben und zwinkert mir zu. Ich schrecke zusammen und werfe einen erschreckten Blick zu Maria, doch sie hat nichts gesehen. Den Rest des Essens meide ich es, German zu beobachten. Trotzdem lache ich über seine Witze, bewundere seine Intelligenz und feiere gemeinsam mit ihm den Erfolg meiner tollen Schwester. Als er sich verabschiedet, führt er mich am Arm kurz zur Seite, beugt sich zu mir herunter und flüstert mir leise ins Ohr: "Versprich mir, dass du niemals dein Lächeln verlierst. Ein Lächeln kann den Raum zum Strahlen bringen und die Sonne aufgehen lassen." Mit diesen Worten lässt er mich stehen.

"Ich brauche dich, lass mich nicht alleine. Auch wenn dein Lächeln vergraben unter einer deiner Masken ist, existiert es noch immer. Es ist dein Besitz, nur du verfügst darüber. Denk an all die schöne Zeit und mach dich auf die Suche nach deinem persönlichen Antrieb, suche dein Lächeln. Ich liebe dich. Egal wie es dir geht, egal wo du bist. Bitte, kämpfe um uns und unsere Liebe. Du bist es wer!"

Um mich herum tragen alle Menschen Schwarz. Haben ihre Gesichter dem dunkel glänzenden Boden zugewendet. Vereinzelt schniefen sie in ihre Taschentücher, schluchzen laut auf. Die meisten halten die Augen geschlossen. Ich sitze in der ersten Reihe, links von mir hält Mama ihr Gesicht in einem schon feuchten Taschentuch verborgen. Ihr Körper bebt unter der Last ihrer Tränen. Ich spiele mit dem Saum meines Kleides, werfe German einen ängstlichen Blick zu. Er legt mir eine warme Hand auf meine Schulter, schenkt mir ein sanftes Lächeln, dass einen Moment lang der tiefen Trauer in seinem Gesicht trotzt. Ich richte meinen Blick nach vorne, betrachte den weißen Sarg, der von unzähligen Blumen gesäumt ist. Die Luft ist getränkt von Schmerz und Tränen. Doch ich bin wie erstarrt. Nie wieder will ich das erleben müssen. Nie wieder will ich so viel Schmerz ertragen müssen. Nie wieder will ich solche Trauer in Mamas und Germans Gesichtern sehen müssen. 

Ich habe eine Chance. Vielleicht kann ich das Leid, das ich im Stande bin auszulösen noch abwenden. Vielleicht kann ich noch immer kämpfen. Plötzlich habe ich das Bild einer Uhr im Kopf. Ist meine Zeit vorbei? Ich habe Leid verursacht, doch das, was ich getan habe, hat noch alles viel schlimmer gemacht. Ich versuche meine Augen zu öffnen, auf mich aufmerksam zu machen, doch es kommt keine Reaktion. Die Kälte ist allgegenwärtig. Ist es nun schon zu spät? Habe ich keine Chance mehr? Kam die Einsicht doch zu spät? Ich will noch kämpfen.


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Langsam neigt sich die Geschichte dem Ende, ein paar wenige Kapitel werden noch folgen, doch viele werden es nicht mehr sein, die Geschichte ist bald erzählt. Doch nun wünsche ich euch erst einmal Frohe Ostern, schöne Feiertage und genießt die freien Tage mit den Menschen, die euch am meisten am Herzen liegen. Ganz, ganz liebe Grüße (:

Germangie-DownWo Geschichten leben. Entdecke jetzt