70. Kapitel: Angie

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Ich habe das Gefühl, als würde meine Welt über mir zusammenbrechen, aber gleichzeitig fühlt es sich so an, als würde etwas Neues entstehen, etwas Gutes, etwas, das mich glücklich machen könnte, wenn ich es zulassen würde. Das erste Mal fühlen sich meine Tränen nicht wie Schwäche an, sondern wie ein Gewinn. Ich weine, was ich fühle, ich lasse es hinaus. Ich habe mit German gesprochen, endlich die Wahrheit gesagt und es fühlt sich so verdammt gut an! Die Angst um den möglichen Verlust versiegt, als er in Tränen ausbricht und mir sagt, dass er mich liebt. Nie hätte ich gedacht, dass einer meiner schönsten Augenblicke in meinen Leben ist, dass der Mann, den ich liebe und ich weinend in einem Krankenhaus sitzen. So ist das Leben. "Danke", murmele ich, noch ganz überwältigt von all den Gefühlen und Tränen, die meinen Körper beherrschen. "Du alleine kannst dir danken, du hast endlich mit mir gesprochen", wiegelt er ab. Meine Tränen versiegen und ich schlinge meine Arme um seinen Körper. Ich möchte einfach nur in seinen Armen liegen, wissen, dass ich in Sicherheit bin und gehalten werde und seinen Duft einatmen. German erwidert meine Arme prompt und als seine Hände mir sanft über den Rücken streichen, lächele ich endlich wieder. 

"Ich habe einen Termin mit einer Psychologin", erzähle ich ihm wenig später, als wir uns wieder voneinander gelöst haben. "Ich denke, dass ist der erste Schritt für mich in mein neues Leben, die erste Chance, die ich mit beiden Händen packen muss", ergänze ich. German strahlt mich an. "Ich bin so froh, wie du dich entschieden hast!", teilt er mir seine Freude mit. "Ich weiß nicht, wieso sich plötzlich meine Sichtweise so verändert hat, ich denke, ich wollte mich nicht hassen und dich nicht verlieren. Ich war und bin es leid nicht zu wissen, wer ich bin. Und diese Frage hat sich jetzt geklärt. Ich bin Angeles Carrara und wer sich damit nicht abfinden kann, ist nicht gut für mich. Schluss mit all den Fehlern aus der Vergangenheit, so schwarz sie auch waren, noch sind die Seiten meiner Zukunft unbeschrieben, weiß, und das soll solange es geht auch so bleiben", versuche ich mich zu erklären. "Du musst dich mir nicht erklären, ich liebe dich so wie du bist, egal mit wie vielen Ecken und Kanten", unterbricht er meine philosophische Rede abrupt und bringt es somit auf den Punkt. Ab diesem Moment komme ich mir vor wie in einem dieser Romantikfilme. German beugt sein Gesicht so weit zu mir herunter, bis unsere Lippen nur noch wenige Millimeter voneinander entfernt sind. Er wartet auf mich, er wartet, bis ich bereit bin. Ich hebe meinen Kopf die fehlenden Millimeter und schließe die Lücke zwischen uns. Ein wahres Feuerwerk der Gefühle tobt durch meinen Körper und reißt mich mit sich. Ein Prickeln und Gänsehaut breiten sich auf meiner Haut aus, während meine Lippen längst den perfekten Rhythmus gefunden haben. Ich genieße jede Sekunde des Kusses, wie seine Hand in meine Haare greift und wie still die Zeit plötzlich für mich steht. Als wir uns schweren Herzens voneinander lösen, ist es still zwischen uns. Unser beider Atem ist das Einzige, das den Raum füllt. "Danke", flüstern wir gleichzeitig, was uns beiden ein verlegenes Lachen entlockt. Es ist vielleicht nicht unser erster Kuss, aber definitiv der emotionalste, tiefgründigste und wichtigste. "Ich muss zurück, aber morgen komme ich wieder, direkt nach deinem Termin und dann bringe ich Violetta mit, wenn sie nicht bald mit dir sprechen kann, bricht sie nachts hier ein", verabschiedet sich German mit sichtlichem Bedauern. "Einverstanden", wispere ich, noch immer mehr als überwältigt. Mit einem letzten Lächeln verschwindet er aus meinem Zimmer.

Was für Gefühle so ein winziger Moment auslösen kann, merke ich, als ich später mit zugezogenen Vorhängen in meinem Bett liege und mir nichts sehnlicher wünsche, als endlich einschlafen zu können. Immer wieder sehe ich sein Gesicht, so nah über meinem, schmecke seine Lippen und atme seinen Duft ein. Jedes Mal, wenn ich meine Augen schließe, höre ich ihn lachen. Wie soll ich da nur schlafen können? Ich wundere mich, wie sehr meine Stimmung umschlagen konnte. Aber ich bin glücklich damit. Und mit diesem Gedanken sinke ich endlich in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Der Morgen vergeht wie im Flug und ehe ich mich versehe, ist es zwei Uhr und damit Zeit für meine erste therapeutische Sitzung. Ich schlüpfe in eine Hose und ein T-Shirt und mache mich auf den Weg. Marie Marchand wartet schon auf mich, ein verkniffener Mund ziert ihren harten Gesichtsausdruck. Was diese Frau  wohl mit mir vorhat? "Sie sind pünktlich", stellt sie mit einem Blick auf die Uhr fest. "Ich hatte erwartet, sie würden nicht kommen", erklärt sie ihre Aussage und sieht mich wartend an. Soll ich da etwas antworten? "Es gibt Dinge im Leben, für die lohnt es sich zu kämpfen", erkläre ich knapp und so pragmatisch wie möglich. "Und nach Jahren ist das Ihnen plötzlich vom einen Tag auf den anderen klar geworden? Wem wollen Sie hier eigentlich etwas vormachen, sich selbst oder mir?", fragt sie mich und blickt mich unverwandt an. "Wieso etwas vormachen, ich glaube an das, was ich sage", gebe ich etwas schnippisch zurück. "Nein. Es gibt einen Unterschied zwischen etwas glauben und wollen, dass man etwas glaubt. Sie wünschen sich, dass sie schnell hier raus sind und wollen ihr altes Leben zurück, wohlwissend, dass sie das nicht mehr bekommen. Deshalb spielen Sie hier mir die Frau, die ihre Fehler eingesehen und akzeptiert hat und hoffen, dass sich der ganze Vorgang dadurch beschleunigt", meint sie. "Da stimme ich Ihnen nicht zu. Sie wissen nicht, was ich fühle!", beschwere ich mich. "Ich möchte Sie nicht schlecht machen, ganz im Gegenteil, ich möchte, dass Sie mit sich im Reinen sind, dass sie wissen, wie es in Ihnen wirklich aussieht. Das Gehirn ist unglaublich und gerade gaukelt es Ihnen vor, dass alles toll ist. Ich will Ihnen helfen, ich möchte ebenso so sehr wie Sie, dass Sie ein normales Leben außerhalb dieser Räume führen können, aber dafür müssen Sie bereit sein mitzuarbeiten und sich mir zu öffnen, verstehen Sie?", erklärt sie mir. Ich nicke. Vielleicht hat sie Recht. Vielleicht rede ich mir tatsächlich ein, dass es mir endlich wieder gut geht, damit ich keine Angst mehr haben muss. Aber wenn ich nicht mal mir die Wahrheit eingestehen kann, dann wird mein Leben nur noch komplizierter. "Also, wie fühlen Sie sich tatsächlich?", fragt sie erneut, mit einem tatsächlich weicheren Tonfall als zu Beginn. "Ich fühle mich geteilt. Ein Teil von mir schreit, dass alles gut ist, dass ich mir vertrauen kann, aber der andere Teil erklärt mir, dass das nicht weiter als Wunschdenken ist. Ich habe Angst vor der Zukunft, aber ich will weitergehen. Ich will German nicht verlieren, aber ich brauche ihn. Ich will mein altes Leben zurück, mein altes Ich, aber ich weiß, dass ich damit nie mehr glücklich sein kann. Ich kenne mich selbst nicht mehr", antworte ich ehrlich. "Dann wird es Zeit, dies zu ändern", meint Marie Marchand nachdrücklich. Ich bin dankbar für die harten Worte. Auf in ein neues Leben, auf in mein neues Ich. Auf, meine Seiten des Lebens zu beschreiben, meine Zukunft zu gestalten. 

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