49. Kapitel: Angie

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Ich klammere mich an Germans Hand, als wäre sie mein Rettungsanker inmitten eines schlimmen Sturmes. Ich halte sie fest und er hält mich fest. Es ist eine zarte, kleine Geste, doch sie bedeutet mir mehr als alles andere auf der Welt in diesem Moment. Momente wie dieser sind vergänglich, auch wenn ich mich von ganzem Herzen wünsche, dass dieser Augenblick für immer bleibt. Keiner muss etwas sagen, eine angenehme Stille herrscht zwischen uns, anders als die Stimmung sonst zwischen uns war. Etwas hat sich verändert. Ist das das Verschulden ehrlicher Worte? Worte, die solange darauf gewartet haben, endlich ihren Weg heraus aus meinem Körper zu finden? Worte, die den Weg zu German geschafft haben? Worte, die in meinen Geist eingedrungen sind und sich eingenistet haben? Worte sind so mächtig. Sie können zerstören, doch sie können ebenso heilen. Worte sind wertvoll und besonders und man muss sie geschickt einsetzen können. Ich glaube, uns ist das gelungen. Die Wahrheit hat einige Fragen beseitigt, neue sind entstanden, es geht weiter. German wird immer bei mir sein. 

"Danke", flüstere ich, immer noch zutiefst berührt von seinen Worten. "Das verdankst du einzig und alleine dir selbst", hauch German als Antwort. Unbewusst stehlt sich ein Lächeln auf mein Gesicht. Wie gut sich das anfühlt. Ein anderes Gefühl. Freude, Neugier. Werde ich diese Gefühle behalten können? Was passiert, wenn ich wieder etwas zum Zerstören bringe? Dieser Teil ist in mir, momentan gefesselt und begraben, aber ich weiß, dass es ihn gibt. Werde ich lernen, diese andere Hälfte zu kontrollieren? Was geschieht, wenn ich nicht immer solche verständnisvollen Menschen wie meine Familie um mich habe? Wenn ich mehr zerstöre als eine irgendwie zum Scheitern verurteilte Liebe? Wenn das nächste Opfer meine eigene Familie und Freunde im Ganzen ist? Mein Lächeln erstirbt bei diesen Gedanken. Woher kommen diese Gedanken? Wieso können sie nicht einfach aufhören mich tagein, tagaus zu quälen? 

"Violetta will dich unbedingt sprechen, es kann sein, dass sie dich heute noch anruft", verkündet German und reißt mich aus meinen schwarzen Gedanken. "Sei ehrlich zu ihr, sie hat das verdient", ergänzt er vorsichtig. Ich nicke. "Du hast Recht, Violetta ist alt genug um zu erfahren, was sie für eine labile Frau zur Tante hat", meine ich sarkastisch. "Angie!", zischt German empört. Ich kann mich nicht zu einem Grinsen zwingen. Es ist die Wahrheit. "Was denn?", frage ich ruppig. "Sag nicht solche Dinge, ich bitte dich", fleht er. Angst schwingt in seiner Stimme mit und lässt mich schweigen. Doch auch er weiß, dass diese Dinge wahr sind. "Natürlich, ich freue mich auch, sie endlich wieder zu hören", gebe ich ernster zur Antwort, was German zu beruhigen scheint. "Da ist noch etwas", fängt German an. Das folgende Thema scheint ihm unangenehm zu sein. Was kommt denn noch? Hat Monsieur Bouvier mit ihm geredet, ist etwas nicht in Ordnung? "Was?", frage ich nach, da mein Schwager keine Anstalten macht, mit der Sprache rauszurücken. "Es geht um Angelica. Findest du nicht, dass du mal mit ihr sprechen solltest? Sie ist deine Mutter, sie macht sich garantiert Sorgen!", sagt er schnell. Er hat Recht. Mama sollte wissen, wie es mir geht. Es schmerzt mir, dass ich sie enttäuscht habe. "Ich bin froh, dass wir so ehrlich zueinander sein können", murmele ich. German lächelt mich sanft an. "Ich bin froh, dass ich dich kenne", antwortet er. Die Stimmung im Raum kippt plötzlich, ich habe das Gefühl, als würde die Luft knistern. German zieht mich näher zu seinem Gesicht und ich atme seinen einzigartigen Geruch ein, sauge ihn ein und genieße ihn. Sanft streicht er mir über die Wange. Unsere Gesichter sind nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt und ich schließe reflexartig meine Augen. Mein Körper scheint verrückt zu spielen, sämtliche in meinem Körper verfügbaren Hormone werden ausgeschüttet und jagen durch meinen Körper. Meine Haut prickelt wie verrückt, als seine Lippen auf meine treffen. Wie ein Feuerwerk jagen die Empfindungen durch meinen Körper und für einen Moment vergesse ich, wo ich gerade bin, vergesse die Vergangenheit. Das einzige, das zählt, sind German und ich, vereinigt durch einen Kuss. 

Als die Tür so heftig aufgestoßen wird, das sie mit einem lauten Krachen gegen die Wand knallt, fahren wir erschrocken auseinander. Meine Wangen glühen, als wären wir gerade bei etwas Verbotenem erwischt worden. Unbewusst streiche ich über meine Lippen und beobachte German aus den Augenwinkeln. In der Tür steht Monsieur Bouvier. "Was fällt Ihnen eigentlich ein?", donnert seine Stimme durch das Zimmer. Hat er den Kuss zwischen German und mir gesehen? Ist Körperkontakt in einer Klinik verboten? Ich will gerade zu einem nicht gerade netten Einwurf ausholen, als er fortfährt:"Sie können doch nicht einfach so die Klinik verlassen! Für wen halten Sie sich denn eigentlich? Sie haben doch keine Ahnung, was das für Auswirkungen auf Sie haben kann? Und dann auch noch die Schmerzmittel! Ich dachte, ich spinne! Denken Sie auch einmal nach, bevor Sie etwas tun?" Er scheint fertig zu sein und seufzt laut. "Verzeihen Sie", meint er nun etwas gelassener. Vor Aufregung ist sein Kopf ganz rot geworden. Hat er sich Sorgen um mich gemacht? Oder ging es ihm lediglich um den Ruf des Klinikums? "Wenigstens sind Ihre Werte wieder einigermaßen stabil, sagen wir, den Umständen entsprechend eigentlich richtig gut. Wie sind Sie nur auf diese -Verzeihung- bescheuerte Idee kommen, sich mit Schmerztabletten ins Aus zu befördern?", will er erschöpft wissen. "Ich habe gerne die Kontrolle über die Dinge, die ich tue. Und wenn diese Dinge mein Leben betreffen um so mehr. Ich wollte ein letztes Mal frei über etwas entscheiden. Es war in diesem Moment der einzige Weg, den ich sehen konnte. Oder sehen wollte. Es erschien mir alles so richtig, ich weiß, ich habe nicht an die Konsequenzen gedacht, das war reiner Egoismus. Ich würde gerne sagen, ich will das ungeschehen machen, aber ich will es nicht. Es war eine Erfahrung, die wichtig war und wichtig sein wird", antworte ich ohne nachzudenken. Diese Worte sind die Wahrheit. Mein Blick zuckt zu German. Er lächelt mich aufmunternd an. Irgendwie sieht er stolz aus. Stolz auf mich? Komisches Gefühl. Ich schaue wieder zu Monsieur Bouvier. Er scheint noch etwas sagen zu wollen. "Sie sprechen in der Vergangenheit, haben Sie diese Phase abgeschlossen?", will er wissen. Ich nicke mit aller Überzeugung, die ich aufbringen kann. Ich habe Germans Blick gesehen, als ich kurz vor meiner Bewusstlosigkeit auf ihn zu gegangen bin. Nie wieder will ich der Grund für so viel Leid in seinen Augen sein. "Das ist schön. Allerdings ändert das nichts an der Tatsache, dass wir Lucia entlassen müssen", meint er. Er versucht sich an einem gefühlsneutralen Tonfall, doch er kann das Mitleid und die Angst nicht vollständig unterdrücken. Wieso habe ich bloß nicht an Lucia gedacht? Sie hätte gar nicht da sein dürfen, aber sie war es. Weil sie mir helfen musste. Sie fühlte sich verpflichtet. Sie wollte nicht, dass sich ihre Geschichte erneut wiederholt. Ich habe ihr es kaputt gemacht. Was wird aus ihr? Was wird aus unserer Freundschaft? Was wird aus mir?

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