79. Kapitel: German

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Ich starre unverwandt in die Augen von Monsieur Bouvier. Es ist wie ein kleiner Kampf zwischen uns beiden, nur durchgeführt durch unseren Blickkontakt, niemand möchte zuerst den Blick abwenden und sich geschlagen geben. Sein harter Blick geht mir trotzdem durch und durch. Ich sehe es absolut nicht als Fehler entgegen der Regeln hergekommen zu sein, ganz egal, welche Predigt ich mir gleich anhören werden muss. Angie zu sehen und im richtigen Moment für sie da zu sein war all das wert. Sie hat mich gebraucht und ich war zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Ich habe etwas vielleicht nicht Positives abwehren können, weil ich einfach nur da war und sie getröstet habe, sie abgelenkt habe, mit ihr gesungen habe. Nichts und niemand auf der Welt kann mich von Angie trennen. Ich muss wissen, dass es ihr gut geht, damit es mir gut gehen kann. Wie oft habe ich mich dabei ertappt, wie ich in den letzten Tagen an sie gedacht habe? Ich weiß es nicht, es waren unzählige Momente, Minuten, in denen ich in Tagträumen verschwunden bin und mir alles mögliche ausgemalt habe. Ganz egal auch was Monsieur Bouvier zu mir sagen mag, nichts vermag mich die vergangenen Momente zu bereuen. Dieses ahnungslose Enge-Gefühl, das von mir besitzt ergreift, wenn ich hilflos bin, verschwindet nur, wenn ich in Angies Nähe bin, wenn ich ihr sanftes Lächeln auf ihrem Gesicht sehe, wenn ich ihr Lachen höre und ihre Augen strahlen. Und dass sie mich ebenso sehr braucht, wie ich sie brauche, hat sie mir alleine durch ihre Blick und ihre Offenheit in den vergangenen Momenten demonstriert. Sie hat es vielleicht schwerer als ich, nein, sie hat es auf jeden Fall schwerer als ich in dieser Situation, aber sie hat eine unglaubliche Stärke und da bin ich unheimlich stolz auf sie. Auch wenn sie vermutlich nie verstehen wird, was sie alles geleistet hat, wie stark sie immer geblieben ist, es reicht mir zu wissen, dass ich es weiß. 

Monsieur Bouvier räuspert sich und unterbricht damit unseren Augenkontakt. Dann wendet er Angie den Kopf zu und hebt eine Augenbraue. Er will eine Erklärung für mein Auftauchen. "Ich habe ihn gebraucht und er war da", sagt Angie einfach und sieht dabei tiefenentspannt aus. Die letzten Nächte müssen ihr zugesetzt haben, dunkle Schatten ruhen unter ihren blauen Augen, aber als sie den Blick auf ihren Arzt richtet, verschwindet jeglicher Schimmer von Müdigkeit aus ihren Augen und sie spannt ihren Körper an. "Er hat mir geholfen. Ich weiß nicht, wo ich ohne ihn jetzt wäre", erklärt sie ihm ernst. "Wozu haben wir Regeln aufgestellt? Wo kommt unsere Gesellschaft hin, wenn jeder die Regeln zu seinen Gunsten wendet? Wenn es sich jeder bequem macht und sich sein Leben so einrichtet, dass auch ja alles einfach ist? Es gibt hier Regeln, damit wir unseren Patienten den optimalen Schutz gewährleisten können. Ich tue das hier nicht für mich, ich sehe, wie stark die Verbundenheit zwischen Ihnen beiden ist, aber gibt das den Grund für einen Regelverstoß?", appelliert er. "Es geht hier um mehr als Regeln", beginnt Angie, doch ich unterbreche sie. "Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, Monsieur Bouvier, ich schätze Ihre Arbeit unglaublich, ich werde Ihnen ewig dankbar sein für all das, was sie für Angie getan haben, aber was das angeht, muss ich Ihnen leider widersprechen. Wieso sollte ich Angie jetzt alleine lassen, wenn das in nicht allzu ferner Zukunft ohnehin nicht mehr der Fall sein wird? Sie gehört zur Familie, sie hat in Buenos Aires eine Menge Leute, die sie unterstützen, sie wird nicht mehr alleine sein, sie wird andauernd Menschen um sich haben, die sich um sie kümmern und sich um sie sorgen. Ich werde mir Mühe geben und ihr ein wunderschönes Leben ermöglichen. Es macht keinen Sinn, uns voneinander zu trennen, wir werden vermutlich immer Wege finden um uns zu treffen. Ich werde Angie nie wieder alleine lassen. Wenn Sie uns voneinander trennen, leiden wir beide. Dieses Gefühl, dass etwas fehlt, diese Leere, die Sorgen, die Angst, dass etwas passieren könnte und ich zu spät kommen könnte; ich kann das nicht mehr ohne sie, verstehen Sie?" Angie geht einen Schritt auf mich zu und drückt leicht meinen Arm. Sind das da Tränen, die da in ihren Augen schimmern? Ich schenke ihr ein Lächeln und richte meinen Blick wieder auf Monsieur Bouvier. Meine Worte scheinen ihn zum Nachdenken angeregt zu haben. "Es ist, als würde ein Teil von mir fehlen, wenn ich alleine bin. Als wäre er eine Droge für mich, nach der sich mein Körper zehrt, wenn ich auf Entzug bin. Es ist, als würde sich mein Herz schmerzhaft spalten, immer und immer wieder, bis es in eine Unmenge kleiner Teile zerbricht, die verloren gehen. Es ist wie ein tödlicher Virus, der sich in mir ausbreitet wie ein schwarzes Loch und mich von innen verzehrt, bis ich hohl bin, nicht mehr in der Lage etwas zu fühlen. Es ist Angst. Atemraubende, schreckliche, reine Angst, wenn ich alleine bin. Ich habe Angst vor mir, Angst, dass ich etwas tun könnte, das ich später bereuen werde. Ich ertrage diese Gefühle nicht mehr, ich will sie hinter mir lassen können, ich will loslassen und nach vorne gehen. Ich will nicht mehr alleine sein, verstehen Sie?", flüstert Angie hinter mir mit belegter Stimme. Gänsehaut hat sich während ihrer Ansprache auf mir breit gemacht. Ich nehme ihre zarte Hand und drücke sie leicht, ich möchte ihr zeigen, dass ich an ihrer Seite bin, dass wir diesen Kampf für uns entscheiden können. 

"Vielleicht haben Sie tatsächlich Recht", murmelt der Arzt einige qualvolle Augenblicke später. Erleichterung macht sich in mir breit. Wir können es schaffen! Vielleicht kann ich Angie gleich mitnehmen, die Tickets buchen und mit ihr losfliegen! "Es wäre unverantwortlich von mir, Sie beide voneinander zu trennen. Sie beweisen mir beinahe tagtäglich, was wahre Liebe bedeutet, was es heißt, wenn man alles für diese eine Person aufgeben würde, um sie in guten Händen zuschätzen, um zu wissen, dass es dieser einen Person gut geht. Sie haben beide Recht, ich kann Sie nicht trennen. Nichts kann Sie beide trennen. Ich werde schauen, was ich für Sie tun kann, ich werde mich sofort in Bewegung setzen und mich um alles kümmern. Ich bin auf Ihrer Seite", murmelt er engagiert. Angie drückt fest meine Hand. Ich kann es kaum glauben. Freude erfüllt jeden Zentimeter meines Körpers und ich drücke Angie an mich. Wir haben es tatsächlich geschafft. Das war der nächste Schritt vor Buenos Aires. Ich bin so unglaublich stolz auf uns. Bei dem Gedanken an Angies Worte wird mir warm ums Herz. Wir können so froh sein, dass wir einander haben. Und das sind wir auf jeden Fall.

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