85. Kapitel: German

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Die Tage bis zu unserer Abreise vergehen wie im Flug. Sachen werden gepackt, die gemeinsame Zeit wird noch einmal voll ausgekostet, Paris wird erkundet und kleinere Besorgungen erledigt. Bevor wir die Rückreise antreten, steht Angie nur noch ein letzter Termin bevor, der sie von ihrer Heimat in Buenos Aires trennt. Und je näher dieser Termin wird, desto nervöser und reizbarer verhält sich Angie. Gerade sitzt sie auf der breiten Fensterbank und starrt aus dem Fenster auf die Straße. Ihrer gebeugten Haltung nach beschäftigen sie gerade Gedanken, die für sie nicht wirklich angenehm sind. Es ist nicht das erste Mal, dass ich sie so abwesend und in sich gekehrt sehe, aber es stimmt mich jedes Mal aufs Neue nachdenklich. In diesen Momenten erscheint sie mir so weit entfernt und mich packt immer wieder das Gefühl, dass sie mir entgleitet und ich das nicht aufhalten kann. Vielleicht sollte ich mir diese Gedanken abgewöhnen, aber ich habe mir in der vergangenen Zeit so oft Sorgen um Angie gemacht, dass ich mir das gar nicht mehr abgewöhnen kann. Ich fürchte, Angie macht sich mehr Gedanken um ihre Rückkehr nach Argentinien, als sie zugibt. Und das ist etwas, was ich absolut verstehen kann, ich bin überzeugt davon, dass es für Angie nicht leicht wird, aber sie weiß, wen sie an ihrer Seite hat. 

Ich werfe einen Blick auf meine Uhr. Wir müssen los, sonst kommen wir zu spät. Ich nähere mich Angie, doch sie scheint mich nicht zu bemerken, so vertieft ist sie in ihren Gedanken. Sanft lege ich ihr eine Hand auf ihren Rücken und sie fährt zusammen. "Müssen wir los?", fragt sie ohne den Kopf zu drehen. "Ja", antworte ich schlicht und folge ihrem Blick auf die Straße. "Bleibst du bei mir?", will Angie wissen. "Wenn du das wünschst, mache ich das gerne", verspreche ich ihr. Dann wendet Angie mir ihr Gesicht zu. Ein sanftes Lächeln ziert ihr schmales und wunderschönes Gesicht, aber es erreicht ihre Augen kaum. Sie hat Angst vor dem, was jetzt kommt, aber ich bin inzwischen überzeugt davon, dass jetzt endlich alles gut wird. "Wir sind dann mal weg", rufe ich, als wir die Wohnung verlassen und uns auf den Weg machen. Es herrscht Schweigen zwischen uns, Angie grübelt über ihre Gedanken weiter und ich denke über Angies Gedanken nach. "Es wird schon alles gut werden", unterbreche ich das Schweigen und hoffe auf ein ehrliches Lächeln als Antwort. Doch Angie lächelt nicht. Sie erzählt. "Ich will diese Angst loswerden, German. Ich will positiv in die Zukunft sehen und mir nicht die schlimmsten Dinge ausmalen, die passieren könnten. Es war jetzt genug, mir reicht es, ich will, dass es jetzt endlich vorbei ist, verstehst du? Es ist nicht einfach für mich, aber ich will einen Neustart in Argentinien. Aber das weiß nicht jeder dort. Und davor fürchte ich mich. Wirst du mir helfen?" Ich nicke. Natürlich verstehe ich, was Angie mir versucht zu sagen. Sie möchte einen Neuanfang, ihre Geschichte hinter sich lassen, kein Mitleid oder Blicke. Aber wenn sie so darauf beharrt, sich das so trotzig in den Kopf gesetzt hat, dann wird die Realisierung nur umso schwerer. Wenn das das Einzige ist, das ihren Kopf beherrscht, dann wird sie umso mehr enttäuscht sein, wenn nicht alles nach Plan läuft. Und da es kein Grundkonzept für ein optimales Leben gibt, an das sich jeder Mensch auf der Welt hält, wird es diese Fehlschläge geben. Wenn sie diese aber vollkommen ausschließt, wird es sie nur umso mehr treffen. Aber ich werde an ihrer Seite sein und sie auffangen, wenn sie fällt. Für immer. "Wir packen das zusammen. Wir sind stark zusammen", ermuntere ich sie und endlich erhalte ich mein Lächeln.

Und dann sind wir da. Ein letztes Mal stehen wir vor dem Pariser Klinikum. Der Ort, an dem Angie die meiste Zeit ihres Paris Aufenthaltes verbringen musste. Ein letztes Mal, ein paar letzte Checks, letzte Gespräche, letzte Ratschläge. Dann steht unserer Rückreise nicht mehr im Wege. Hand in Hand betreten wir das uns inzwischen doch schon so vertraute Gebäude und machen uns auf die Suche nach Monsieur Bouvier. Er wartet bereits auf uns und bittet uns in sein Büro. "Sie sehen gut aus. Haben Sie sich erholt?", erkundigt sich der Arzt bei Angie. Diese nickt und lächelt unwillkürlich dabei. "Bereit für den letzten Check vor Argentinien?", will er wissen. Wieder ein Nicken als Antwort. "Gehen Sie doch schon einmal in das Nebenzimmer, ich komme gleich nach", fordert er Angie auf und bittet mich, einen Moment noch hierzubleiben. "Es geht ihr besser", beginnt er, kaum dass die Tür hinter Angie geschlossen ist, "aber lassen Sie sich nicht von ihr täuschen. Psychosomatik ist nur bedingt heilbar. Die Rückfallquoten bei psychosomatischen Erkrankungen ist extrem hoch, man kann das Ende einer Erkrankung kaum feststellen. Ich habe Sie als einen engagierten Mann kennengelernt, der alles aufs Spiel setzt, um ihr zu helfen und ich bin mir sicher, dass Mademoiselle Carrara bei Ihnen in den besten Händen ist. Sie haben meine Nummer und ich würde mich freuen, wenn ich Sie noch einmal sprechen könnte. Wenn Sie Fragen oder Zweifel haben, wenn etwas passiert, zögern Sie nicht mich zu kontaktieren. Passen Sie gut auf sich auf. Und auf Mademoiselle Carrara." "Vielen Dank", antworte ich nur und gebe ihm respektvoll die Hand. Auch er hat seine Macken, aber sein engagiertes Verhalten hat dazu beigetragen, dass Angie noch lebt und dafür bin ich ihm für immer dankbar. 

Ich muss warten, bis die Tests und Gespräche mit Monsieur Bouvier und der Psychologin beendet sind, bevor ich wieder zu Angie darf. Sie sieht wesentlich entspannter aus, die Sorgen sind aus ihrem Gesicht verschwunden und sie sieht so glücklich aus, dass ich unweigerlich ebenfalls anfange zu lächeln. "Wir schaffen alles gemeinsam", flüstert sie mir zu und schenkt mir ihr strahlendstes  Lächeln. "Viel Glück für Sie beide. Sie sind ein tolles Paar und können wirklich wirklich stolz auf sich sein. Lassen Sie sich nicht beirren, egal, was auch noch kommt", gibt uns Monsieur Bouvier noch mit auf den Weg. "Zusammen sind Sie ein unschlagbares Duo. Geben Sie das nicht auf, halten Sie daran fest", rät uns Marie Marchand. Und dann ist es plötzlich vorbei, wir verlassen die Klinik Hand in Hand, wohlwissend, dass wir hier nie mehr zurückkehren werden. Und das fühlt sich so verdammt gut an. Wir haben gemeinsam ein großes Ziel erreicht. 

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