46. Kapitel: German

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Im ersten Moment bin ich wie gelähmt. Ich nehme Angies geringes Gewicht in meinen Armen kaum wahr, es ist, als würde ich neben mir stehen. Plötzlich fühle ich eine Hand auf meiner Schulter und zwinge mich mit aller Gewalt in die Gegenwart zurück. Die Hand gehört Lucia, die neben mir steht, während Monsieur Bouvier mir sanft Angie aus den Armen nimmt und sie vorsichtig auf den Boden löst. Er fühlt nach ihrem Puls und nickt. "Puls ist da, aber schwach", meint er. Ein Seufzen entfährt mir. Ich merke, wie angespannt mein ganzer Körper ist, als würde ich unter Strom stehen. "Sie muss auf der Stelle in das Klinikum", weist der Arzt Lucia und mich an. Wir verstehen und knien uns neben ihn. Lucia hat schon ihr Handy gezückt und ruft einen Krankenwagen. 

Ich habe das Gefühl, als würde mein Kopf der Zeit hinterher hinken. Ich brauche mehrere Augenblicke, um nach und nach zu realisieren, was sich gerade abgespielt hat. Angie wollte sich das Leben nehmen. Überdosis Schmerztabletten. Sie wollte ein letztes Mal die Kontrolle über Leben-bis über das Leben hinaus. Und nun liegt sie auf einer Trage und wird mit Blaulicht in den OP chauffiert. Noch immer ist die Welt wie aus Watte, ich bekomme kaum mit, wie ich neben Lucia in den Krankenwagen steige und ihr auf das Schwesternzimmer folge. "Wie geht es dir?", fragt sie mich, als sie mir eine Tasse Kaffee in die Hand drückt. Ich zucke mit den Schultern. Ich kann momentan nicht einmal klar denken. Ihre Worte, die mir eine solche Gänsehaut verursacht haben. Sie hat es wirklich ernst gemeint. Diese Erkenntnis raubt mir den Atem und lässt mich die Tasse scheppernd auf den Tisch abstellen. "Ich hätte es ahnen müssen", murmelt Lucia leise vor sich hin. Ihre Worte lassen mich sie genauer mustern. Sie ist furchtbar blass, ihre Augen sind gerötet, sie muss geweint haben. Sie zittert so stark, dass sie kaum ihre Tasse halten kann. Es muss schrecklich für sie sein. Erst das junge Mädchen, für das jede Hilfe zu spät kam und jetzt auch noch Angie, der Frau, der sie eng vertraut war. "Es ist nicht deine Schuld, Lucia. Es macht keinen Sinn sich Vorwürfe zu machen. Ich bin derjenige, der die meiste Zeit mit ihr verbracht hat. Außerdem ist es meine Schuld, genauso wie ich der Grund bin, dass sie überhaupt hier ist, dass sie überhaupt von ihrer Nichte getrennt in Paris ist. Wenn sich einer in diesem Zimmer Vorwürfe machen darf, dann bin ich es", versuche ich sie zu beschwichtigen. Als Lucia das nächste Mal den Blick auf mich richtet, ist dieser völlig klar, die Erschöpfung ist wie ausgewischt. Zum ersten Mal sehe ich, wie smaragdgrün ihre Augen sind, wenn die Sonne auf ihr Gesicht fällt. "Vielleicht hat Angie dir das nicht gezeigt, vielleicht kann sie es in dieser Situation einfach nicht, aber vergiss niemals: Angie liebt dich. Vielleicht liebt sie dich mehr als alles andere auf dieser Welt, so sehr, dass sie es nicht akzeptiert, dich zu verletzen. Sie braucht dich an ihrer Seite und das kann sie nicht verleugnen. Du bist der einzige Grund, weshalb sie sich noch nicht vollständig aufgegeben hat, vergiss das bitte niemals. Angie braucht dich", meint sie. "Das ist unmöglich! Ich bin und bleibe der Grund, wieso sie all das durchmachen muss!", versuche ich ihre Aussage zu verfälschen. "Höre doch mal auf dein Herz. Du liebst Angie doch genauso sehr. Wieso bist du sonst noch hier?", fragt sie mich. Ich schweige. Sie hat Recht. Der einzige Grund, wieso ich hier bin ist, dass ich mir nicht vorstellen kann, von Angie getrennt zu sein. Sie verzaubert und ich brauche sie. "Weil ich sie liebe", hauche ich und greife nach meiner Tasse. Ein trauriges Lächeln zieht sich über Lucias Gesicht. "Wenigstens du siehst es ein", kommentiert sie meine Erkenntnis. 

Gerade als ich etwas antworten will, klingelt mein Handy. "Castillo", melde ich mich. "Papa!", ruft Violetta in Buenos Aires. Das ist mit Abstand der schlechteste Zeitpunkt, den sie sich zum Anrufen hat aussuchen können. Ich bin meiner Tochter gegenüber kein besonders guter Lügner und wenn es um Angie geht schon zweimal nicht. "Vilu!", melde ich mich nervös. "Bist du gerade bei Angie?", fragt sie mich fröhlich. "Fast", antworte ich ausweichend. Das ist nicht einmal gelogen! "Wann kommt ihr Beiden wieder zurück?", fragt sie neugierig. Ich schlucke. "Das weiß niemand. Angie hat noch einen langen Weg vor sich", antworte ich knapp. "Sag mal Papa, ist wirklich alles okay? Du klingst so komisch. Ist etwas mit Angie?", fragt sie alarmiert. "Nein, nein, alles im grünen Bereich", streite ich schnell ab. Hoffentlich glaubt Violetta mir das. "Wenn du meinst, ich vermisse dich. Und sag Angie liebe Grüße", murmelt sie beruhigt und legt ein paar Worte später auf. Ich atme auf. Das war knapp. Ich lüge sie so ungern an, aber noch mehr muss ich meine Tochter wirklich nicht belasten. 

"Wie hoch ist die Chance, dass Menschen, die einen Suizidversuch hinter sich haben, in ein normales Leben zurückfinden ?", frage ich leise. "Das kann man nicht genau sagen. Ein Suizidversuch ist nichts anderes als ein verzweifelter Hilferuf. Die Person fühlt sich alleine und sieht keinen Ausweg mehr. Diese Panikattacken kann man mit einer gezielten Medikamenten-Therapie regulieren, aber wie sich die Person selbst davon erholt, liegt an ihr selbst und ihrer Einstellung. Wenn der Betroffene realisiert, für was es sich im Leben lohnt zu kämpfen, ist die Chance auf ein ziemlich normales Leben relativ hoch. Doch jeder Mensch ist anders, es gibt da kein Rezept für", beantwortet sie meine Frage leise. Einen Moment herrscht Stille, jeder hängt seinen Gedanken nach. Ich werde immer für Angie da sein und hoffen, dass sie das Leben zu lieben lernt. "Kann ich zu Angie?", erkundige ich mich. "Die Not-OP müsste vorbei sein, Angie müsste im Aufwachraum liegen", antwortet Lucia, sichtlich erleichtert darüber, dass ich das Thema gewechselt habe. Sie schildert mir den Weg und ich gehe los. 

Ich muss Angie unter die Augen treten und mich selbst davon überzeugen, dass sie noch lebt. Ich habe es immer noch nicht ganz realisiert, alles erscheint mir wie ein großer Albtraum. Ihre Tränen, ihre Umarmung, ihre Angst und ihre Entschlossenheit. Ich öffne die Tür, die Lucia mir beschrieben hat. Tatsächlich entdecke ich Angie. Sie ist wach und hat die blauen Augen auf die Tür gerichtet. Mit rauer Stimme fragt sie mich leise:"German, wieso bist du auch im Himmel?"

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