22. Kapitel: Angie

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Reiß dich zusammen, lauf weiter Angie. Ich beiße meine Zähne zusammen, als ich den Gang entlang laufe. Dass die Blicke von German und Violetta auf mir ruhen, weiß ich ohne mich umzudrehen. Vorne am Gang steht Monsieur Bouvier mit verschränkten Armen und beobachtet mich. "Sie haben sich richtig entschieden", begrüßt er mich und verzeiht sein Gesicht zu einer Art Grinsen. Wie mechanisch laufe ich ihm hinterher, als er mich zu einem Aufzug führt und dieser hinauf fährt. Mit einer leisen Klingel kündigt sich unser Ziel an. Es ist ein anderer Stock als der in dem ich vorher gelegen habe. Totenstille herrscht hier, kein anderer Patient ist zu sehen, nicht einmal ein Arzt oder eine Schwester läuft hier herum. Eine Gänsehaut erklimmt meine Arme. Monsieur Bouvier führt mich in eines der Zimmer auf dem Gang. Es ist meinem früheren hier sehr ähnlich, allerdings ist es etwas größer und hat außer dem obligatorischem Bett und Schrank noch einen Schreibtisch mit Stuhl und ein kleineres Regal. Monsieur Bouvier öffnet den Schrank und bringt eines dieser Krankenhauskleidchen zum Vorschein. "Bitte ziehen Sie sich um und machen es sich bequem. Das Abendessen haben Sie leider verpasst, ihre Schwester wird Ihnen aber einen kleinen Snack bringen", erklärt er mir. Er verlässt den Raum. Die Stille hier ist unheimlich. Was würde ich für eine CD, ein Klavier oder jegliche andere Art von Musik tun? Ich ziehe mich schnell um und verstaue meine Sachen im Schrank. Hoffentlich sitzt German mit Violetta gerade im Flieger zurück nach Argentinien. Ihr Blick geht mir nicht aus dem Kopf, sie hat meine Hand gehalten und mich mit so viel Liebe angeschaut, als wäre ich ein ganz normaler Mensch, nicht so etwas wie eine zerstörende Maschine. Vielleicht hat Monsieur Bouvier ja Recht, hier bin ich wohl am besten aufgehoben. Wenn German und Violetta erst einmal wieder in Buenos Aires sind, gibt es hier niemanden, der sich um mich Gedanken machen könnte, der weit genug in meine Nähe kommen könnte, dass ich ihm irgendetwas kaputtmache. Seine große Liebe, seine Freunde, sein Lachen....

Vermutlich eine halbe Stunde später betritt eine zierliche Frau mein Zimmer. Ihrem Namensschild nach heißt sie Lucia. In der Hand hält sie ein kleines Tablett mit einem Apfel, einem Sandwich und einer großen Flasche Wasser. "Lassen Sie es sich schmecken, ich hole das Tablett morgen wieder ab und bringe Ihnen dann das Frühstück. Morgen müssen Sie schließlich fit sein", sagt sie während sie das Tablett geschickt auf dem Nachttisch platziert. Fit für morgen? "Entschuldigen Sie, was steht den morgen für mich auf dem Programm?", frage ich deshalb nach. "Das weiß ich leider nicht. Monsieur Bouvier hat etwas von einigen Tests erzählt, genaueres weiß ich leider nicht, tut mir Leid. Ach, in einer der Schubladen befindet sich etwas Papier. Bitte führen Sie eine Art Tagebuch, das wird Ihnen helfen", antwortet sie mir und verschwindet. Wieso soll ich Tagebuch schreiben? Das war immer die Sache von Maria, mehr als eine Woche habe ich nie am Stück geschafft. Mir fehlte die Zeit mich hinzusetzen und den ganzen Tag erneut aufzurollen um einem Stück Papier meine Geschichte zu erzählen. Auf der anderen Seite, etwas anderes habe ich hier nicht zu tun. Ich nehme mir die Flasche Wasser und setze mich auf den Stuhl. Tatsächlich befindet sich in der Schublade Papier und ein Kuli. Kann ich denn überhaupt Tagebuch schreiben? Was soll ich diesem Stück Papier denn nur erzählen? Doch ehe ich mich versehe, ist die Luft erfüllt von dem gleichmäßigen Schreibgeräusch von Kuli auf Papier.

Eigentlich habe ich keine Ahnung, was ich aufschreiben soll. Ich meine, wer will schon etwas von mir lesen? Man sollte doch froh sein, wenn man von mir fort kommt. Dass German und Violetta noch zu mir halten ist mir echt ein Rätsel. Was finden die beiden bloß an mir? Violetta ist eine so wundervolle junge Dame und German ein toller Ingenieur und ich bloß eine Gestörte fernab von der Zivilisation und schreibe. Dieses Gefühl von Zugehörigkeit ist mir abhanden gekommen. Irgendetwas stimmt mit mir nicht, ich löse bei allen nur Tränen aus. Pablo, German, Violetta. Alle hatten Tränen in den Augen, als wäre ich dem Tode geweiht. Was ist nur los?

Meine Hand sinkt auf das Papier. Wieder ergreift eine merkwürdige Leere von mir Besitz. Ich stehe auf, lege mich in das Bett und ziehe die Decke bis zu meinen Ohren hoch. Doch auch die Decke schenkt mir nicht die Geborgenheit, die mir fehlt. Nicht ein bisschen Wärme. Die Stille schüchtert mich ein, doch schließlich schlafe ich ein.

Als ich die Augen wieder aufschlage, strömt Licht durch das Zimmer. Schwester Lucia steht in meinem Zimmer und hält wieder ein Tablett in der Hand. "Entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht wecken", meint sie und lächelt mich vorsichtig an. "Machen Sie sich da keinen Kopf, ist schon okay", antworte ich. "Sie müssen etwas essen", sagt sie. Wie soll ich ihr erklären, dass ich das nicht kann? Sie würde mir ohnehin nicht glauben. Also schweige ich und wende meinen Kopf ab. "Vorhin hat jemand für Sie angerufen", unterbricht Lucia die anscheinend andauernde Stille hier. Wer könnte mich denn anrufen? Meine Mama weiß nicht, wo ich genau bin. Mehr als Frankreich hab eich ihr nicht gesagt und Pablo wird auch nicht unbedingt mit mir sprechen wollen. "Wer war das denn?", frage ich sie neugierig. "Ich bringe Ihnen das Telefon", antwortet sie und verschwindet aus dem Zimmer. Gibt es also doch jemanden, dem ich nicht ganz egal bin? "Ist gerade dran", sagt Lucia und drückt mir das Telefon in die Hand. Ich sehe, wie sie das Zimmer verlässt und die Tür schließt, als ich mich leise melde. Die Stimme ist zwar müde, aber unverkennbar. "Angie, wir sind vor wenigen Stunden gelandet, aber Vilu hat nicht locker gelassen." Der Anrufer ist unverwechselbar German. "German, was machst du da, wieso rufst du mich an?", stottere ich. "Ich bin todmüde, ich rufe dich morgen wieder an, aber eins muss ich dir sagen. Ich weiß, dass es dir gerade sehr schlecht geht und ich möchte, dass du weißt, dass ich ich für dich da bin. Wenn du etwas brauchst, dann ruf einfach an, ich komme sofort her. Egal wie kaputt du gerade sein magst, wir brauchen dich", erzählt er leise. Moment, mir geht es schlecht? Ich bin kaputt? Was wird das denn? "Ich komme klar", zische ich und lege auf. German denkt ich sei kaputt? Wie kann ich denn kaputt sein, ich bin doch nicht aus Porzellan! Es ist vielleicht nicht alles ganz rund gelaufen, sonst wäre ich schließlich nicht hier, aber kaputt? Wenn German, der Mensch, der mich am besten kennt für kaputt hält, was denken dann die anderen über mich? Bin ich in deren Augen eine Gestörte, eine Verrückte, krank, verwirrt, verloren? Und was bin ich denn tatsächlich? Wer sagt mir, wer ich bin?


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