59. Kapitel: German

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Angie hat einfach ein Talent dafür, mich immer wieder aufzuheitern. Und dass gibt mir die Sicherheit zu behaupten, dass endlich alles besser wird. Ich habe schon befürchtet, sie würde die Diagnose ernster nehmen und nicht so schnell verkraften, aber ich glaube, ich habe mich getäuscht. Ich fahre mir mit der Zunge über meine klebrigen Lippen und schmecke das leichte Erdbeeraroma. Ich bin so unglaublich stolz auf Angie, endlich hat sie sich überwinden können und etwas gegessen. Das war ein großer Schritt, ich weiß nur nicht, wie ich ihr zeigen soll, was sie schon alles erreicht hat. "Ramallo hat sich vorhin gemeldet, ich soll ihn mal wieder anrufen um ihn auf dem Laufenden zu halten. Kann ich dich kurz alleine lassen?", erkundige ich mich bei Angie. Diese schenkt mir ein Lächeln und meint:" Natürlich, ich laufe schon nicht weg." Darauf will ich auch hoffen.

Ich will gerade aus dem Klinikum herauslaufen, als ich eilige Schritte hinter mir höre. Hat Angie etwa ihr Wort nicht gehalten? Ich drehe mich um um sie zurechtzuweisen, blicke aber nicht in Angies blaue Augen, sondern Monsieur Bouviers braune Augen. "Kann ich Sie kurz sprechen?", fragt er. Ich nicke. Wann genau ich mit Ramallo telefoniere ich unwichtig. Er deutet auf ein leeres Büro und ich folge ihm. "Die Schwester war eben in Mademoiselle Carraras Zimmer und hat das Tablett abgeräumt. Hat sie die fehlenden Sachen gegessen und getrunken?", erkundigt er sich, nachdem er mir gegenüber Platz genommen hat. Ich nicke stolz. Endlich kann ich einen Erfolg anmelden. Der Arzt macht sich ein paar Notizen in einer Akte -vermutlich Angies- und murmelt dabei etwas von super. "Dass sie das getan hat, hat sie Ihnen zu verdanken, wissen Sie das?", meint er und schaut mich an. Ich wiege meinen Kopf. Irgendwie ja, aber das so zu denken ist irgendwie egoistisch. "Weshalb ich hier bin, wenn sich Mademoiselle Carraras Zustand weiterhin verbessert und somit stabil bleibt, kann ich sie bald entlassen. Da Schwester Lucia mit Ihnen und ihr nach Buenos Aires kommen wird, mache ich mir um die richtige Pflege keine Sorgen. Ich will Sie mit dem Wort Pflege nicht erschrecken, aber ich hatte das Gefühl, als würde Mademoiselle Carrara ihre Krankheit nicht so ernst nehmen, wie sie ist. Mit einer Herzinsuffizienz ist nicht zu spaßen, es kann jeden Moment zu Komplikationen kommen. Deshalb würde ich sie gerne noch mindestens zwei Wochen hierbehalten, ein Flug nach so einer Operation wäre zu gefährlich. Allerdings würde ich sie wieder auf die Normalstation verlegen, das macht einiges einfacher. Wenn in den nächsten zwei Tagen nichts passiert, können Sie von mir aus gerne die Flugtickets buchen. Ich werde Sie auf dem neuesten Stand halten", erklärt er mir ausführlich. Seine Worte erfüllen mich mit Glück. Zwei Wochen? Die werden schnell vorbeigehen und dann heißt es: Willkommen Alltag! Nicht, dass ich es vermisst hätte zu arbeiten, aber ich sehne mich nach meiner Tochter und Angie wird es nicht anders gehen. Ich stehe auf um das Zimmer zu verlassen, als sich Monsieur Bouvier noch einmal räuspert. "Monsieur Castillo? Ich hatte noch keine Zeit Ihnen dafür zu danken, dass Sie Angie gerettet haben. Ohne Sie hätte sie den Selbstmordversuch nicht überlebt. Aber dank Ihnen konnte sie daraus lernen. Sie sind ein Lebensretter, ich möchte nur, dass Sie das einmal gehört haben, okay? Auf Wiedersehen", dankt er mir und ich wende mich gerührt ab. Zu Beginn konnte ich diesen Mann nicht ausstehen, aber er lebt seinen Job und ist engagierter, als es den Anschein hat. Ich beschließe den Anruf an Ramallo auf später zu verschieben und gehe wieder zu Angie.

"Na, Lust auf einen Ausflug?", erkundige ich mich. "Darf ich denn überhaupt?", will sie wissen. "Solange es nicht so weit ist und du nicht alleine bist, spricht nichts dagegen", antworte ich ihr. "Na dann, worauf wartest du noch?", meint sie kichernd. Ich reiche ihr ein T-Shirt und eine Hose und warte vor der Tür auf sie, damit sie sich in aller Ruhe umziehen kann. Ich gebe einer Schwester, die an mir vorbei läuft Bescheid, wo wir hingehen werden, dass sich keiner Sorgen macht und warte einen Moment, bis Angie umgezogen erscheint. Sie strahlt über das ganze Gesicht. "Ich bin bereit", begrüßt sie mich und läuft schon vor. "Du weiß doch gar nicht, wo wir hingehen", sage ich ihr grinsend, als ich zu ihr aufhole. "Du wirst es mir schon gleich zeigen", antwortet sie schelmisch und zieht mich weiter. So voller Tatendrang habe ich sie schon lange nicht mehr gesehen. Nicht mehr, seit Esmeralda zu uns gekommen ist... Weg mit den schwarzen Gedanken, heute schauen wir nach vorne, denn da gehen wir hin! 

Der Ort, an dem wir wenige Minuten später ankommen, ist nicht Besonderes. Es ist lediglich ein kleiner, idyllischer Platz, der von einem himmlisch duftenden Blütenmeer umgeben und weiß gestrichenen Bänken umzäunt ist. Auf einer dieser Bänke finden wir uns schließlich wieder. "Monsieur Bouvier meint, du darfst bald nach Hause. Vorausgesetzt, deine Werte bleiben stabil", platzt es aus mir heraus. Ich muss diese positive Nachricht einfach mit jemanden teilen. "Echt?", hakt Angie nach. Ich nicke aufgeregt. "Ja, wir fliegen höchstwahrscheinlich in etwa zwei Wochen gemeinsam mit Lucia zurück!", freue ich mich. Ein entrückter Gesichtsausdruck stiehlt ihr das Lächeln vom Gesicht. "Was ist denn los, habe ich etwas Falsches gesagt?", will ich wissen. "Ob wir zurück können, hängt also davon ab, dass ich mich wieder einkriege, normal werde und mir etwas vorspielen muss?", fragt sie mit einem traurigen Unterton. "Du bist normal und du musst dir nichts vorspielen. Ich wollte dich nicht unter Druck setzen, ich dachte nur, dass würde dich aufmuntern und anspornen. Ach ich weiß doch auch nicht", murmele ich. "German, es ist doch alles okay. Ich muss mich einfach daran gewöhnen, es ist eine vollkommen andere Situation, verstehst du?", meint sie beschwichtigend. "Ich verstehe. Und deshalb werde ich immer bei dir sein Angie. Ich habe dich so vermisst!", ruft jemand direkt hinter uns. Erschrocken fahre ich herum. Ist das wirklich die Stimme, die ich denke gehört zu haben? Auch Angie fährt herum. Ein leiser Aufschrei lässt mich meine Vermutung bestätigen. "Vilu, was machst du denn hier?", fragt Angie leise, aber glücklich und wirbelt ihre Nichte herum. "Ich lasse meine Tante doch nicht im Stich!", meint sie empört und grinst mich über beide Wangen hinweg an. 

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