99. Kapitel: German

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Ich stehe einfach nur da. Um mich herum eilen Ärzte und Schwestern umher, jeder kennt seinen Weg, weiß, was er tun soll, weiß, wo er gebraucht ist. Nur ich stehe hier mitten im Gang wie ein Fremdkörper und weiß nicht, was ich in diesem Moment tun soll. Angie kämpft auf der anderen Seite der Wand um ihr Leben. Erneut. Nur warum ist meine Angst dieses Mal so viel größer? Sie hat ihren Zustand selbst herbeigeführt. Ich habe solche Angst, dass sie den Mut zum Kämpfen verloren hat, als sie den Schritt auf die andere Seite gewagt hat. Und wenn sie es überleben würde, wäre sie wohl kaum noch dieselbe Angie von davor. Aber die ist sie wohl schon lange nicht mehr. Ich glaube, wir alle haben uns in der letzten Zeit mehr verändert, als uns selbst bewusst ist. Ich erkenne mich in manchen Momenten selbst nicht mehr. Aber das bin ich nicht leid. Ich habe genauso gekämpft, wie Angie kämpft und gekämpft hat und für diese Erfahrung bin ich froh. Man weiß sein Leben erst zu schätzen, wenn auf einmal alles auf der Kippe steht. 

Die weißen Wände um mich herum engen mich ein. Ich habe keine Möglichkeit in Erfahrung zu bringen, was in Angies Zimmer geschieht. Kein Laut dringt an mich heran, selbst die Geräusche, die der Alltag in einem Krankenhaus mit sich bringt, dringen nur gedämpft an mein Ohr. Ich bin wie in Trance, bekomme nichts mit, erlebe die Welt wie in Watte gepackt. Mir ist so kalt, ich zittere am ganzen Körper. Ich habe unbeschreiblich große Angst. Angie braucht mich jetzt, ich sollte an ihrer Seite sein und ihre Hand halten. Oder ist das jetzt der Augenblick, in dem sie allein sein muss? Alleine über ihre Zukunft nachdenken muss? Um ihren Willen zu kämpfen? Ich habe Angst. Ich umklammere Angies Brief, drücke ihn fest an die Brust, als würde ich deshalb Angie spüren. Beinahe könnte ich mir einreden, Angies sanfte Stimme in meinem Ohr zu hören. Ich liebe sie so sehr. Was soll ich nur ohne sie tun? Sie alles für mich, sie ist die Welt für mich. 

Mir wird schwindelig, die weißen Wände beginnen sich um mich zu drehen. Ich habe das Gefühl, als würden über meinem Kopf hohe Wellen zusammenschlagen und brechen. Das Rauschen des Meeres erfüllt meinen Kopf, meinen Körper, ich keuche schwer. Ich stütze mich an der glatten Wand ab, sonst wäre ich wohl gefallen. Vorsichtig lehne ich mich an die kalte Wand und lasse mich auf den Boden hinabgleiten. Ich senke meinen Kopf auf meine angewinkelten Knie und starre das gegenüberliegende Weiß an. Ich könnte schreien. Um all das Elend auf der Welt. Um diesen Moment, um die alles einnehmende Angst in meinem Körper, die mir den letzten Rest Verstand ausraubt, bis von mir nichts mehr als eine leere Hülle emotionsloser Mensch übrig bleibt. Und gerade, als ich wirklich schreien möchte, öffnet sich die Tür einen Spalt breit und eine Schwester tritt heraus. "Kommen Sie herein, Sie werden gebraucht", fordert sie sich auf und erlaubt sich ein schmales, aber freundliches Lächeln. Ist Angie aufgewacht? Ist sie lebendig? Geht es ihr doch gut? Ich springe regelrecht vom Boden auf und folge der Schwester in Angies Zimmer.

Blass sieht sie aus, wie als ich das Zimmer verlassen musste. Ihre Augenlider flimmern, sie zuckt etwas. Ich werfe einen verzweifelten Blick auf den behandelnden Arzt. "Machen Sie sich keine Sorgen, das ist normal, sie wacht auf", erklärt er mir mit einem gequälten Lächeln. Ich trete an das Bett heran und umklammere regelrecht Angies schmale Hand. Sie wird ruhig. Ich bin mir der Blicke der Ärzte in meinem Rücken bewusst, aber ich bin hier für Angie. Ihre Hand fest umschlossen, streiche ich ihr mit meiner anderen Hand sanft über das Gesicht. "Ich bin bei dir, Angie", flüstere ich leise an ihr Ohr. Und da öffnet sie tatsächlich ihre Augen, blinzelt mehrmals, bis sie mich erfassen kann. Sie öffnet ihren Mund, möchte etwas sagen, doch kein Wort dringt über ihre Lippen. "Du musst nichts sagen, Angie. Ich verstehe dich. Und ich möchte, dass du immer weißt, dass ich dich liebe. Du hast deinen Platz in meinem Herzen, für immer", flüstere ich. Die Ärzte verlassen den Raum, lassen mich alleine mit Angie. Angie räuspert sich, ihr Körper bäumt sich auf. Ich lege ihr meine Hand auf die Schulter. "Ruhig, Angie, es ist alles gut, alles wird gut", beruhige ich sie. Wieder öffnet sie den Mund. "German", beginnt sie heiser. Ein liebevolles Lächeln zwingt sich mir in mein Gesicht. Sie scheint ihre Kräfte zu sammeln. "Ich liebe dich, German", haucht sie und sinkt wieder in das Bett zurück. Eine weitere lange Pause, die sie braucht, um wieder zu Atem zu kommen. Noch immer halte ich ihre Hand fest, drücke sie leicht und sie erwidert schwach, aber merklich den Druck. "Ich kann nicht gehen, ohne ein letztes Mal mit dir gesprochen zu haben. Du bist alles, was ich habe, alles was ich bin. Du bist mein Leben. Für immer. Was wäre ich nur ohne dich? Du warst immer da, wenn ich dich am meisten gebraucht habe, bist nie von meiner Seite gewichen, bist mir beigestanden, hast mir Mut in den dunkelsten Stunden gemacht. Und du bist die Sonne gewesen, die mir gezeigt hat, welcher Weg der richtige ist. Ohne dich hätte ich es nie soweit gebracht. Du warst der Inhalt meiner Träume und meiner Fantasien. Ich liebe dich von ganzem Herzen und daran wird sich auch nie etwas ändern. Wenn das hier das Ende sein sollte, werde ich auf dich warten, wo auch immer ich dann bin. Ohne dich bin ich nicht ganz, nicht vollkommen", erzählt sie, dann schnappt sie nach Luft. Tränen laufen mir über die Wangen. Wie macht sie das nur? Ich weine ohne Ton, ich bin berührt von ihren Worten und habe Angst vor den Konsequenzen. "Meine Kraft neigt sich dem Ende. Ich befehle meinem Körper, noch nicht aufzugeben, ich muss das hier zu Ende bringen. Es tut so weh, ich könnte schreien, doch das würde die Qualen nicht mildern. Ich habe Angst, dass es erst besser wird, wenn meine Kraft verschwunden ist. Du hast deinen Platz in meinem Herzen", wieder geht ihr der Atem aus. Nun rinnen auch ihr Tränen über die Wangen, quellen aus ihren hellblauen Augen und laufen die schneeweißen Wangen hinab. Es ist ein beängstigender Anblick, der trotz allem wunderschön ist. "Angie, ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich über jeden Augenblick mit dir war und bin. Nun ist es an dir. Du wirst die richtige Entscheidung treffen. Tu, was du für richtig hältst, denn das wird es sein. Entscheide dich für das, was für ich richtig ist", beschwöre ich sie. Ich würde alles dafür tun, Angie neben mir halten zu können, aber diese Entscheidung muss sie alleine treffen. Sie zittert, das spüre ich deutlich. "Ich wünschte, ich hätte früher über meine Gefühle gesprochen, ich wünsche, ich hätte mich glücklicher sein lassen. Aber Vergangenheiten sind vorbei. Sag Vilu, wie sehr ich sie liebe. Sie ein so tolles Mädchen, sie macht mich so stolz. Vergiss mich nicht, German. Es ist nicht deine Schuld", flüstert sie. Ich schluchze laut auf. Das darf nicht passieren! "Angie!", wispere ich. Ich umklammere ihre Hand, als könnte ich sie so festhalten. "Ich liebe dich! Ich werde auf dich warten!", haucht sie, dann sinkt ihr Kopf auf das Kissen zurück. 

Ich zittere am ganzen Körper, Sturzbäche aus Tränen ergießen sich unkontrolliert über mein Gesicht. Ich kann den Blick nicht von ihrem zerbrechlichen Körper abwenden. Meine Hand wandert an ihre Wange, doch als ich keine Reaktion spüre, zucke ich zurück. Es ist vorbei. Es ist verloren. Der Kampf, die Qual, es hat ein Ende gefunden. Eine Ruhe für Angie. Ich streiche ihr durch die weichen Locken. Es ist so still, nur mein Herz schlägt laut. Als will es in tausend Teil zerbersten. Herzschlag für Herzschlag fühlt es sich an, als würde ein Teil meines Herzens verloren gehen. Ich liebe Angie für immer. 

Hinter mir öffnet sich die Tür. Ein tränenerstickter Schrei ertönt gedämpft hinter mir. Es sind Lucia und Violetta, die den Raum betreten haben. Violetta stürzt auf mich zu, ich nehme sie in den Arm und wiege sie sanft hin und her, als wäre sie noch ein Kleinkind. Sie vergräbt ihren Kopf an meiner Schulter. Ihr Körper wird geschüttelt von einem heftigen Weinkrampf nach dem anderen. Lucia sinkt an Angies Seite zusammen, ihr Gesicht ist eingefallen, die Wangen blass. "Ich hätte für sie da sein müssen", flüstert sie, dann stürmt sie aus dem Raum. Besorgt schaue ich ihr hinterher. Olga wird sich um sie kümmern. Meine Tochter richtet sich auf. "Es ist besser für sie, oder?", wispert sie leise und tapfer. Ich nicke. "Es geht ihr jetzt besser", flüstere ich und bin von der Bedeutung meiner Worte überzeugt. Violetta nickt beruhigt und sinkt ihren Kopf wieder auf meine Schulter. Mein Blick ruht auf Angie. Sie hat gekämpft. Solange sie konnte. Bis sie besiegt wurde. Ein sanftes Lächeln liegt auf ihren Lippen. Sie wollte ein letztes Mal mit mir sprechen und dafür hat sie ihre gesamte Kraft genommen. Angie wird glücklich sein. Eine weitere Träne löst sich aus meinen Augenwinkeln und versickert in Violettas Haar. Ich werde für meine Tochter leben und alles tun, damit sie wieder glücklich wird. Und wenn eines Tages sich mein Leben dem Ende neigt, bin ich nicht alleine. Angie wartet auf mich. 

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