54. Kapitel: German

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Angies Augenlider flackern verdächtig. Was passiert hier gerade? Sind das Nachwirkungen ihrer Operation? Sie hätte nicht herkommen sollen, sie ist viel zu schwach. Angie scheint gegen etwas anzukämpfen, ihre Lippen sind zu einem schmalen Strich zusammengepresst und die Anstrengung steht ihr ins Gesicht geschrieben. Wie kann ich ihr nur helfen? Ich ergreife ihre rechte Hand. Mit einem gemühten Lächeln bedankt Angie sich bei mir. "Ich bin bei dir", flüstere ich ihr zu. Sie entspannt sich langsam und lässt vorsichtig meine Hand los. Ich hatte gar nicht gespürt, wie sehr Angie gedrückt haben muss, so sehr habe ich mich auf ihren verkrampften Gesichtsausdruck konzentriert. "Danke", flüstert sie leise, dann dreht sie sich zur Seite und schläft ein. 

Sie sieht so friedlich aus, wenn sie schläft, als wäre sie in ihren Träumen in einer anderen Welt. Sie hat etwas Zerbrechliches an sich, als wäre sie die Erste, die bei jeder Turbulenz kaputt geht. Der Anblick täuscht, er täuscht wie so vieles. Seufzend decke ich Angie mit einer Decke zu und hebe die Tasse vom Boden auf. Eine merkwürdige Stille ist in diese Wohnung eingekehrt, ich höre nichts, kein Klappern, kein Vogelgezwitscher, nicht einmal Geräusche der Autos, die vor dem Fenster vorbeifahren. Ich mache mich auf die Suche nach einem Lappen, mit dem ich den Tee, der aus der Tasse gelaufen ist, aufwischen kann und öffne eine Tür, die auf der anderen Seite des Wohnzimmers liegt. 

Das Zimmer ist unverkennbar Angies Schlafzimmer. Auch wenn es lediglich spärlich eingerichtet ist- Angie steckt hier überall. Ein Bild auf dem Nachttisch erregt meine Aufmerksamkeit. Es ist ein gerahmtes Foto von meiner Hochzeit mit Maria, Violetta springt im Hintergrund munter mit ihrem bunten Kleid umher. Ich erinnere mich an diesen Tag nur zu gut. Es war warm, perfektes Wetter für eine perfekte Hochzeit. Violetta war schon seit Tagen schrecklich nervös gewesen, auch wenn sie kaum verstanden hat, was ihre Eltern da eigentlich genau tun. Ihre Aufgedrehtheit hat meine Nerven beruhigt. Und ich erinnere mich an Angie. Sie strahlte an diesem Tag ganz besonders, vor allem aber war sie schrecklich aufgeregt, weil sie etwas singen sollte. Angie hat bezaubernd gesungen, ich habe heute noch ihre Stimme in meinem Ohr. Das Foto, das auf dem Nachttisch steht, stand jahrelang in meinem Büro, bis zu Marias Tod. Es gegen ein etwas älteres Foto auszutauschen war Ramallos Idee, er merkte, wie weh es mir tat, das Foto Tag für Tag, Stunde für Stunde anzuschauen. Aber wieso steht dieses Foto bei Angie? Es gibt hunderte wunderschöne Bilder von Maria, wieso genau das eine? "Ich habe mir immer gedacht; du wirst in deinem Leben niemals so glücklich sein können wie deine Schwester und ihre Familie. Als Erinnerung habe ich dieses Foto aufgestellt, ich wollte es niemals vergessen, niemals in Versuchung geraten das Negative zu verbannen. Der Tag war so perfekt, wie ich niemals einen haben werde", meint eine leise Stimme hinter mir. Ich fahre herum und sehe Angie auf einem Stuhl sitzen. Sie muss hereingekommen sein, als ich das Foto betrachtet habe. "Weißt du, was den Tag so perfekt gemacht hat? Niemand, der an dieser Hochzeit beteiligt war, hat auch nur einen schlechten Gedanken gehabt. Dafür war einfach kein Platz, es gab einen Grund zu feiern, wieso sollte man da über Dinge nachdenken, die dort nichts verloren haben? Überall war diese positive Stimmung spürbar, vor allem, als du gesungen hast", antworte ich gedankenverloren. "German, ich kann nicht anders", gibt Angie gequält zurück. "Wenn du willst, dann kannst du alles schaffen, Angie. Denk daran, du bist nicht mehr alleine, ich bin bei dir und das solange du willst", versuche ich sie zu besänftigen. "German, es gibt da etwas, über das ich mit dir sprechen sollte", fängt Angie nervös an. "Und zwar?", frage ich mit gerunzelter Stirn nach. "Am besten, wir besprechen das nicht hier in diesem Zimmer, setzen wir uns lieber nach draußen", meint sie und führt mich auf den kleinen Balkon. 

Nachdenklich betrachtet Angie den Ausblick, als warte sie darauf, dass die Worte zu ihr fliegen und für sie sprechen. "Ich weiß nicht, wie ich anfangen soll, ich habe so etwas so selten getan", fährt sie schüchtern fort. "Wenn du dich vor irgendjemanden nicht verstellen musst, dann wohl vor mir. Ich verstehe dich vermutlich besser, als du denkst", ermutige ich sie. "Okay. Na ja, irgendetwas passiert und ich kann es nicht einordnen. Das heißt, ich habe da so eine Vermutung, aber... Ach ich weiß auch nicht, wieso ist es so schwer, die richtigen Worte zu finden? Ich, mir geht es besser, wenn ich weiß, dass du in meiner Nähe bist, ich bin ein anderer Mensch, wenn ich dich sehe, du bringst mich zum Nachdenken, zum Umdenken. Jahrelang war ich der Überzeugung, dass das, was ich tue der einzig richtige Weg ist, aber du hast mir gezeigt, dass das so nicht stimmt. Du hast mich nicht aufgegeben, du glaubst mehr an mich als ich selbst und das ist einfach wunderbar. Du glaubst gar nicht, wie froh ich war, als ich dich das erste Mal hier in Paris gesehen habe, du warst wegen mir hier! Ich wollte das nicht wahrhaben, was ich gesagt habe muss teilweise echt verletzend gewesen sein, dafür möchte ich mich entschuldigen. Ich kann dir nicht sagen, was ich fühle, denn das ist gerade ein Gemisch aus allem Möglichen, ich kann dir nicht sagen, was ich denke, denn das tue ich gerade nicht und ich kann dir um alles in der Welt nicht erzählen, was ich dir gerade erzähle und warum, das wüsste ich selbst gerne. Das Einzige, das ich dir sagen kann, ist, was mein Herz will, was es braucht. Und das bist du. Ich brauche dich, das Gefühl zu wissen, dass du mich unterstützt, egal wie es mir geht, was ich erzähle oder wie ich bin. Ich habe einem Menschen gegenüber noch nie soviel Zuneigung empfunden wie zu dir, German", gesteht sie mir, ehe ihre Stimme bricht. Ich kann nicht anders, ich starre Angie an. All diese Worte, die mich berühren, die sich denjenigen ähneln, die auch in mir sind und darauf gewartet haben, ausgesprochen zu werden. Keiner von uns rührt sich auch nur einen Millimeter, ich vergesse zu atmen. Plötzlich nimmt Angie meine Hand und gräbt ihre Finger in meine Handflächen. "Angie?", erkundige ich mich alarmiert. "Egal was jetzt passiert German", keucht sie,"ich liebe dich." Ich schaffe es gerade noch rechtzeitig einen Arm um ihre Taille zu legen und sie zu mir her zuziehen, dann bricht sie zusammen. "Ich liebe dich auch, Angie. Und ich werde alles für dich tun."

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