95. Kapitel: German

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Ich kann keine Sekunde stillstehen. Wo verdammt nochmal ist Angie? Denk nach, German, denk nach. Welchen Grund kann Angie gehabt haben, um ohne eine Nachricht zu verschwinden? Ist etwas vorgefallen? Noch immer stehe ich vor Angies leerem Bett und starre auf die sorgsam gefaltete Bettdecke. Sie war eindeutig nicht hier, sie muss also gegangen sein, bevor sie schlafen konnte. Aber was war gestern Abend? Hat Angelica sie so sehr aus der Bahn geworfen, dass sie es nicht einmal mehr hier ausgehalten hat? Ich schüttele meinen Kopf, es muss eine sinnvolle, eine einleuchtende Antwort auf die Frage geben. Angie würde niemals ihr Leben riskieren oder etwas gänzlich Unüberlegtes tun. Sie muss einen Grund gehabt haben. Wer weiß, vielleicht ist ja auch alles harmlos und es geht ihr gut, vielleicht wollte sie nur früh raus um etwas zu besorgen? Aber das erklärt nicht, wieso sie nicht hier geschlafen hat. Ich habe keine Ahnung, ich fühle mich so hilflos. Buenos Aires ist eine so große Stadt, wie soll ich Angie da nur bloß finden?

Plötzlich höre ich Schritte, die die Treppe hinauf kommen, es klopft vorsichtig an der Tür. Ich fahre auf, ist das Angie? Ist sie zurück? "Ja?", rufe ich. Langsam öffnet sich die Tür, doch es ist nicht Angie, die vor der Tür steht, sondern Lucia, die mich mit ihren smaragdgrünen Augen besorgt mustert. "Was ist passiert German? Du bist auf einmal ganz blass geworden und verschwunden?", fragt sie mich und macht einen Schritt auf mich zu, legt sanft eine Hand auf meinen Arm und bringt mich so dazu, in ihr Gesicht zu blicken. Tiefe Sorgen erfüllen ihr Gesicht. Er wandert an mir vorbei hinüber zu Angies unbenutztem Bett. "Wo ist Angie?", stellt sie verwundert die Frage, die ich mir die ganze Zeit ebenfalls stelle. "Ich habe nicht die geringste Ahnung", antworte ich ehrlich und verzweifelt. Ich will mir gar nicht vorstellen, was Angie schon alles passiert sein könnte. "Ich hätte in ihr Zimmer gehen sollen, ich hätte nachschauen sollen, ob es ihr gut geht. Dann hätte ich viel früher gewusst, dass sie nicht da ist. Sie ist schon so lange fort, wir haben keine Chance, sie zu finden, wenn etwas passiert ist, stehen die Chancen sehr gering...", fange ich an, doch meine Stimme bricht. Lucia zieht mich wortlos in eine Umarmung. Mir fehlt die Kraft um etwas zu sagen. "Es gibt bestimmt eine plausible Erklärung", versucht Lucia mich zu beruhigen, doch ich höre den Zweifel in ihrer Stimme deutlich heraus. 

Vorsichtig löse ich mich wieder von Lucia, erhasche einen Blick auf ihr von Sorgenfalten durchzogenes Gesicht, bevor sie sich beherrscht und sich ein Lächeln ins Gesicht zementiert. So wie Angie. Eine Meisterin im Masken tragen, eine Meisterin der Selbsttäuschung und Illusion. Bitte, lass es ihr gut gehen, ich brauche sie so sehr. "Vilu darf das nicht mitbekommen, sie war gestern schon ganz verzweifelt, als sie gesehen hat, wie ihre Tante geweint hat, die aktuelle Situation wäre sicherlich zu viel für sie", bitte ich Lucia um ihre Diskretion. Diese nickt nur. Sie scheint in Gedanken bereits ganz woanders zu sein. Für einen Moment wird mir klar, was die Situation für Lucia bedeutet. Die ersten Tage in einem fremden Land und schon ist ihre Patientin und Freundin verschwunden. In Argentinien hat sie keine Freunde, die ihr einen Gefallen schulden, sie kennt sich nicht in der Stadt aus, Lucia muss sich noch sehr viel hilfloser fühlen als ich. "German?", dringt Lucias Stimme leise in mein Bewusstsein. "Kann es sein, dass Angie unser Gespräch gestern Nacht mitangehört hat?" Schlagartig wird mir eiskalt. Das ist es. Das ist die plausible Lösung, die auf der Hand lag. Angie muss einfach gehört haben, über was ich mich mit Lucia unterhalten habe, als sie schlafen gehen wollte. Und daraufhin hat sie Schutz in der der Dunkelheit der Nacht gesucht. 

Ohne einen weiteren Gedanken zu verlieren, drehe ich mich auf dem Absatz um und stürme aus dem Haus, renne ohne darüber nachzudenken durch die leeren Straßen Buenos Aires'. Irgendwo hier ist Angie, alleine, ohne Hoffnung. Was, wenn sie... Ich mag den Gedanken gar nicht zu Ende denken. Meine eigene Angst lähmt mich, hindert mich daran, an die schrecklichen Möglichkeiten zu denken, die mich erwarten könnten, sollte ich überhaupt Angie finden. Wieso habe ich nur dieses Gespräch mit Lucia geführt? Wieso habe ich meine Gedanken nicht für mich behalten können? Wenn ich nicht so leichtsinnig gewesen wäre, wüsste ich Angie jetzt längst in Sicherheit? Ich hätte sie nicht alleine lassen dürfen, nicht nachdem Angelica ihr Leben so gehörig auf den Kopf gestellt hatte. Mein Handeln war unverantwortlich und nun muss ich die Folgen tragen. Es ist ein tiefer Schmerz, der sich anfühlt, als würde er mir das Herz aus der Brust verätzen. Wie ein dichter, zäher Schleier, der sich über mein Herz legt und es lähmt. Als würde ich innerlich zerbrechen, immer und immer wieder, bis ein Scherbenhaufen das einzige ist, das noch an mich erinnert. Doch ich laufe weiter. Ignoriere das Gefühl der Atemlosigkeit, die innere Ohnmacht. Angies Leben könnte in meiner Hand liegen, ich muss jetzt für sie da sein, ich muss sie finden. 

Tief in mir habe ich die Gewissheit, dieses Mal zu spät zu kommen. Für mich ist es klar, dass ich eventuell nichts mehr tun kann. Aber da ist dieser eine kleine Funken Hoffnung. Und dieser Funken erhält mich am Laufen, dieser Funken hat die Hoffnung kann ein ganzes Lagerfeuer entzünden, so sollte es gebraucht werden. Ich werde nicht aufgeben, solange dieser Funke in mir glüht und mein Herz am Schlagen lässt. Ich weiß längst nicht mehr, wo ich mich befinde. Bäume stehen überall um mich herum, verblühte Bäume, fliederfarbene, zartrosane und weiße Blütenblätter hüllen mich ein, wirken befremdlich vertraut auf mich. Ihre Reinheit ist einzigartig. Sie sind unschuldig an allem Übel der Welt. Sie sind ein Symbol für Frieden. Soll mir das etwas mitteilen? Habe ich noch Hoffnung? Ist es vielleicht doch nicht zu spät? Ich eile durch die Bäume hindurch, Hoffnung hat von mi Besitz ergriffen, in einer Form, die ich noch nie verspürt habe. 

Und dann sehe ich sie. Ein Häufchen von Mensch, ein helles Kleid, Haare, die über den Rücken fließen. Tränen strömen ungebändigt über meine Wangen, ich renne auf die Parkbank zu, vergesse die Welt um mich herum. Mit der verzweifelten Hoffnung eines Ertrinkenden stürme ich auf sie zu, rufe ihren Namen, immer wieder. Keine Reaktion. Ich werfe mich vor ihr auf den Boden, lege eine Hand an ihr Gesicht und zucke zurück. Ihre Haut ist viel zu kühl, zu blass. Dann wandert mein Blick an ihr hinunter. Ich zucke zusammen, kann es nicht wahrhaben. Der Saum ihres Kleides ist von Blut getränkt. Es sickert aus einer schmalen Wunde an ihrem Handgelenk. Geistesgegenwärtig reiße ich mir mein Hemd vom Leib, wickele es um ihre Unterarme um die Blutung zu stoppen. "Angie, bleib bei mir", flehe ich, während ich ihr verzweifelt durch das Haar streiche, meinen Blick stur auf das Rinnsal Blut gerichtet. Dunkelrot glänzend, verräterisch in dem hellen Licht, das durch die Blütenblätter auf die Bank mit Angie fällt. Meine Tränen vermengen sich mit Angies frischem Blut. Ich richte meinen Kopf gen Himmel und stoße einen verzweifelten Schrei aus. Dann senke ich meinen Kopf und vergrabe ihn in Angies duftendem Haar. 

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