40. Kapitel: Angie

198 24 8
                                    

Mein Atem geht stoßweise, ich zittere und fühle mich plötzlich wie nach einem Marathon, völlig ausgelaugt. Mein Blick gleitet an German vorbei, in Richtung der Glasscheibe, hinter der sich Lucia verbirgt. Ich sehe ihren sorgenvollen Blick, dann steht sie auf und verlässt das Zimmer. Ich habe Angst. Wenigstens etwas, das mir geblieben ist, welch Ironie. Ob German mich schon als verrückt abgestempelt hat? Immerhin klingt das, was ich sage, ziemlich abgedreht, aber ich weiß doch, was ich gesehen habe! Aber was ist das schon für eine Entscheidung, medizinischer Befund gegen abgedrehte Frau. Die Angst bevölkert mich, auf der einen Seite ein unangenehmes Gefühl, aber gleichzeitig füllt die Angst die bodenlose Leere in mir auf. 

Langsam drehe ich German meinen Kopf zu. Er mustert mich nachdenklich, sorgenvoll. Vielleicht sollte ich nicht mit ihm sprechen, ich belaste ihn jedes Mal aufs Neue, als wäre sein Leben auch ohne mich nicht schon kompliziert genug. Nun ja, jeder hat so seine Talente. "Geht es wieder?", fragt German leise. Seine Stimme klingt stark, doch sein Blick huscht nervös zwischen meinen Augen und dem Monitor hin und her. "Ich bin okay", antworte ich ebenso leise. "Ich habe mir Sorgen gemacht", meint er und legt seine Stirn in Falten. "Das brauchst du nicht, ehrlich German. Du hast schon so viel getan, ich bin dir unendlich dankbar, aber du bist kein Übermensch. Es ist so wie es ist, da kann niemand etwas ändern", versuche ich es behutsam. "Natürlich, Angie. Du kannst etwas ändern! Deine Zukunft liegt ganz alleine in deinen Händen und ich werde immer an deiner Seite sein, egal was passiert. Aber es liegt an dir, wie deine Zukunft aussieht und wenn du dich nicht bald einmal zusammenreißt, dann weiß ich auch nicht mehr weiter! Es gibt da draußen so viele Dinge, die es wert sind sie zu erleben, wirf das nicht einfach weg. Auch wenn du es nicht glaubst, ich verstehe dich, ich weiß wie du dich fühlst, gib jetzt nicht auf. Du hast dein gesamtes Leben noch vor dir, nichts gibt dir das Recht dafür jetzt einfach aufzuhören!", wirft er dazwischen. Sein Tonfall schwankt irgendwo zwischen Wut und bodenloser Verzweiflung. Ich bin hin und her gerissen. Woher nimmt er diese schier unendliche Kraft? So wie er es jedes Mal schafft, mir etwas Wundervolles zu erzählen, so werde ich jetzt meine Kraft zusammennehmen und einmal mit ihm sprechen. Er hat es verdient, er ist hier wegen mir. "German, bitte höre mir zu", fange ich an, Germans braune Augen wandern sofort nachdenklich zu mir und halten meinen Blick fest, "German, ich habe das Gefühl, als gibt es in mir nur zwei Dinge. Das eine ist Angst, beinahe Panik, die mich in letzter Zeit häufig ergreift, mir schlaflose Nächte bereitet und mich dazu zwingt, alles zu überdenken. Angst, die mir den Boden unter den Füßen wegzieht und mir die schrecklichsten Dinge vorgaukelt. Es ist, als warte die Angst hinter jedem Winkel auf der Welt um mich zu packen, das Gefühl ist unerträglich. Und dann gibt es da noch diese merkwürdige Leere, als wäre ein schwarzes Loch in mir, das alles aufsaugt. Diese beiden Dinge wechseln sich ab und ich werde wahnsinnig dabei. German, was du mir jedes Mal sagst, wenn du mich besuchen kommst, berührt mich sehr, aber ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll. Es ist tatsächlich einfach so, als hätte ich jegliche Art von Gefühl verloren, als wäre ich eine leere wandelnde Hülle, die Tag für Tag hinter sich bringt, bis irgendwann einmal alles vorbei ist." 

Stille folgt auf meine Worte. German bedenkt mich mit einem fassungslosen Gesicht, wendet den Blick ab und greift nach meiner Hand. Ist er sauer? Oder versteht er einfach nicht, wie es mir geht? Ich kann es einfach nicht beschreiben, ich finde keine Worte. "Wie kannst du nur so denken?", bringt er fassungslos hervor und massiert meine Hand mit seiner. "Du, ohne Gefühl? Alleine wie du mit mir redest beweist, dass du viel mehr Gefühl in dir hast, als du denkst. Wenn du anfängst, so zu denken, Angie, dann...", fängt er an und unterbricht sich mitten im Satz. "Da siehst du es German, ich will keine Angst mehr haben, ich wünsche mir nichts mehr, als jemanden zu umarmen, auf der Bühne zu stehen und einfach ich zu sein. Aber ich weiß, dass es nicht geht und wenn du ganz ehrlich bist, dann weißt du das auch, German", gebe ich zu bedenken. Da lässt German meine Hand los und umarmt mich. Er ist sanft zu mir und plötzlich, ohne dass ich darüber nachdenke, erwidere ich seine Umarmung. Als er meine Hände auf seinem Rücken spürt, verstärkt er den Druck in seinen Armen und ich vergrabe mein Gesicht an seiner Schulter. Wie sehr habe ich das vermisst. Ich genieße die Wärme, die von meinem Schwager ausgeht und entspanne mich zum ersten Mal seit endlos langer Zeit in seinen Armen. Sein Duft benebelt mich und als mir eine Träne au dem Augenwinkel die Wange herunter rinnt, fühle ich mich wach. Weg von diesem tauben Gefühl, mitten da, wo ich sein will. German wischt mit einem Finger meine Träne auf und lächelt leise. "Siehst du, du bist da. Da wo du sein willst, wo du sein musst." Gerührt starre ich ihn an, atme seine Nähe ein und genieße, koste diesen Moment aus, solange er da ist. Ich habe gar nicht gemerkt, dass ich aufgehört habe zu weinen, Germans Blick aus diesen braunen Augen hält mich fest. 

Erst als ich einen Schatten auf mein Bett fallen sehe, wende ich den Blick ab. Der Schatten gehört zu einer traurig lächelnden Lucia, die wohl schon eine Weile an meinem Bett stehen muss. Sie deutet German kurz vor der Tür zu warten. "Du hast da jemanden, mit dem kannst du alles schaffen", meint sie nachdenklich. Sie scheint gar nicht richtig da zu sein. "Das wird sich zeigen", antworte ich vorsichtig. Lucia nickt mir zu. Irgendetwas stimmt bei ihr nicht und diesmal betrifft es sie selbst, nicht meine Probleme. "Irgendetwas stimmt doch nicht mit dir Lucia, was ist passiert?", frage ich sie sorgsam. "Es ist nichts", antwortet sie monoton. "Ich bin für dich da", verspreche ich ihr ehrlich und meine das ernst. "Klar", flüstert Lucia, ehe sich umdreht und aus dem Zimmer stürzt. Was mag da nur passiert sein? Es gibt soviel, über das ich nachdenken müsste. Was hat German da in mir ausgelöst? Hat er Recht? Bin ich da, wo ich sein will, wie ich sein will?

Germangie-DownWo Geschichten leben. Entdecke jetzt