21. Kapitel: German

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Langsam kehren meine Sinne zurück. Das Erste, das ich merke ist, dass die Schmerzen nachgelassen habe. Dieser stechende Schmerz in meinem Bein ist nur noch ganz dumpf zu spüren. Jemand muss mir Schmerzmittel gegeben haben. Ich rieche Desinfektionsmittel und schlage vorsichtig meine Augen auf. Ein Mann im weißen Kittel steht mit dem Rücken zu mir und trägt etwas in eine Liste ein. Als hätte er etwas gehört, dreht er sich zu mir um. Es ist Monsieur Bouvier, ausgerechnet. Hier im Klinikum gibt es bestimmt knapp 100 Ärzte und ausgerechnet er untersucht mich. "Haben Sie Schmerzen?", fragt er mich. Ich verneine. "Kaum. Mein Bein fühlt sich nur etwas schwer an." "Versuchen Sie einmal es zu bewegen, das müsste eigentlich problemlos funktionieren", befiehlt er. Ich tue wie geheißen und hebe mein Bein etwas an. Tatsächlich verschlimmert sich der Schmerz kaum. Zum Glück, das heißt, es muss wieder besser sein. Ich muss für meine Tochter und Angie da sein, da kann ich keine Behinderung durch ein kaputtes Bein gebrauchen. "Das sieht doch gut aus. Sie haben Glück gehabt, dass man Sie so schnell her gebracht hat. Die Naht ist aufgegangen, so konnte die Wunde wieder zu bluten beginnen. Wir haben die Wunde erneut verschlossen und Ihnen Schmerzmittel gegeben. Wenn Sie mir versprechen, dieses Mal besser aufzupassen und sich ein wenig zu schonen, dürfen Sie später gehen", erklärt er mir. "Sie bekommen jetzt ein Paar Krücken und dann müssen Sie versuchen, ob Sie schon ohne zu große Schmerz-Attacken gehen können. Das ist bei jedem Patienten unterschiedlich, je nachdem wird die Dosierung der Schmerzmittel angesetzt. Sind Sie bereit?", fragt mich Monsieur Bouvier. Ich nicke. Er hilft mir aufzustehen und drückt mir ein Paar blaue Krücken in die Hand. 

Ich darf keine Schmerzen haben, ich muss zu Violetta, meinen Plan umsetzen! Meine Hände umklammern die Krücken und ich wage einen kleinen Schritt. Das Blut schießt in meinen Fuß und augenblicklich breitet sich ein leichter Schmerz aus. Ich beiße meine Zähne zusammen und nicke meinem behandelnden Arzt zu. Er versteht und öffnet die Tür. Monsieur Bouvier geht voraus und bleibt plötzlich stehen. Ich humple ihm hinterher und versuche einen Blick zu erhaschen. Was ist da vor ihm? 

Da drängt sich jemand an dem Arzt vorbei und rennt auf mich zu. Es ist Violetta, die mit Tränen in den Augen vor mir stehen bleibt. "Ich hatte solche Angst um dich!", ruft sie. Ich lächle ihr aufmuntert zu. Wenn Violetta hier ist, dann kann Angie auch nicht weit sein. Da wird es mir klar, der Grund, weshalb Monsieur Bouvier angehalten hat, ist nicht etwas, sondern jemand. Und dieser jemand ist Angie, die gerade in die Fänge ihres Arztes geraten ist. Er wird sie sofort wieder aufnehmen und sie nicht mehr aus den Augen lassen, das ist klar. Ich humple auf die beiden zu und belausche die beiden. "...unverantwortlich von Ihnen, wie können Sie nur die Klinik verlassen! Und das in Ihrem Zustand! Sie als Patientin können doch selbst gar nicht einschätzen, was gerade mit Ihrem Körper los ist. Ihr Herz könnte eine Attacke haben und Sie würden es erst merken, wenn es zu spät ist! Deshalb gibt es doch Einrichtungen wie diese, damit wir Ihnen rechtzeitig helfen können", fährt er Angie gerade an. Aufmerksam beobachte ich Angie, den Kopf gesenkt starrt sie auf den Boden. Sie ist verzweifelt, natürlich. "Ich als Arzt muss darauf bestehen, dass Sie mit mir mit kommen und wieder hier stationär aufgenommen werden. Etwas anders kann ich nicht befürworten", meint er. Angie wieder hier? Das nimmt sicherlich kein gutes Ende. Angie hebt den Kopf und fängt meinen Blick auf. In ihren wunderschönen blauen Augen schimmern Tränen, sie weiß, dass sie aus dieser Nummer nicht mehr herauskommt. Angie wendet den Blick ab und nickt. "Ich bleibe", flüstert sie kaum hörbar mit tränenerstickter Stimme. Monsieur Bouvier dreht seinen Kopf. "Ich lasse Sie noch fünf  Minuten alleine, dann nehme ich Sie mit nach oben", erklärt er und läuft in das Behandlungszimmer. Verloren sieht sie aus, das ist das Einzige, dass zutrifft. Violetta tritt an meine Seite, gemeinsam stehen wir Angie gegenüber. "Du schaffst das", flüstert meine Tochter. Ich bin so unglaublich stolz auf sie! "Und wenn nicht? Was macht ihr dann?", fragt Angie ernst und schaut uns bedrückt an. "Wie kannst du so etwas sagen?", frage ich empört. "Papa hat Recht, wir glauben an dich", unterstützt mich Violetta. Ich sehe, dass Angie nicht überzeugt ist. In ihrer Vorstellung von sich selbst, muss sie ziemlich kaputt sein. Jetzt strömen ihr Tränen über die Wangen. Ich trete noch einen Schritt näher zu ihr. "Glaub an dich", flüstere ich. Sanft wische ich ihr eine Träne aus dem Gesicht. Dann mache ich unsicher einen Schritt nach hinten. Ich bin überfordert. Woher soll ich wissen, wie ich mich in solch einer Situation verhalten soll? Keiner bereitet einen auf so einen Fall vor. Ich hätte nie gedacht, dass es Angie einmal so schlecht gehen wird. Sie hat in ihren jungen Jahren schon so viel verkraften müssen, irgendwann ist doch Schluss. Selbst der stärkste Mensch ist irgendwann am Ende seiner Kräfte, fertig von dem, was er versucht hat zu verstecken. 

"Flieg zurück Vilu", sagt Angie. Meine Tochter sieht mich verzweifelt an. Für sie muss das noch schlimmer sein als für mich. Angie ist ihre Tante, eigentlich viel mehr, für sie ist Angie wie eine Mutter. Sie trägt Maria in sich und so viel von dem perfekten Teil von sich selbst. Doch ich weiß, dass Angie Recht hat. Violetta muss zurück, zurück zu ihren Freunden, zurück zur Musik, zurück in die Normalität. Sie ist zu jung für diese Welt. "Ich verspreche es dir. Ich gehe mit Vilu zurück", antworte ich deshalb. Vielleicht hilft das Angie irgendwie. 

Violetta greift zuerst nach meiner Hand, dann nach der Hand von Angie. Ich begreife. Ich halte Angie meine Hand hin, welche sie zögerlich ergreift. Ihre schmale Hand ist kalt und umklammert beinahe die meine. So stehen wir da, ein kleines Dreieck. Wir haben unter anderem eines gemeinsam. Wir haben nur uns und einen weiten Weg vor uns. Ohne Unterstützung werden wir nicht weiter kommen. Über Angies Gesicht huscht etwas, das die Andeutung eines kleinen Lächelns sein könnte. Ich hoffe, dass Angie aus diesem Moment Kraft schöpfen kann, doch dafür wird weit mehr nötig sein, als ein einziger kleiner Moment. Sanft entwendet Angie ihre Hand und deutet an, zu Monsieur Bouvier zu gehen. "Gib dich niemals auf", flüstere ich ihr zu, als sie unsicher an uns vorbei den Gang entlang läuft. Violetta hat eine Hand noch immer nicht losgelassen. Ich beobachte Angies unsichere Schritte. Ich möchte hoffen, dass ab jetzt alles besser wird, doch tief in mir weiß ich, dass es noch nicht vorbei ist. Angie wird sich nicht von heute auf morgen ändern.Es wird seine Zeit brauchen und ich hoffe, dass es diese Zeit noch gibt. Angie steckt zu tief darin fest. Sie wirkte am Ende so gefasst, etwas stimmt da nicht. Und ich hoffe bloß, dass es nicht das ist, was ich vermute...


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