62. Kapitel: Angie

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Noch immer prasselt der Regen ohne Unterbrechung gegen das Fenster. Im Rhythmus der Regentropfen lösen sich meine Tränen von meinem Wimpernkranz und fließen meine Wangen hinunter. Ich fühle mich ausgelaugt, aber beschützt in Germans Armen. Ich weiß nicht, ob ich zufrieden mit dem Gespräch sein soll. Dass Mama mir keine Vorwürfe gemacht hat, sehe ich als Erfolg. Sie hat mir nicht vorgeworfen, dass ich nicht normal sei, dass mit mir etwas nicht stimmen würde, wie ich eigentlich erwartet habe. Nur die allgegenwärtige Sorge in ihrer Stimme, die sie seit Marias Tod nicht mehr los wird. Verständlich, aber beängstigend. Ich will ihr nur keinen Kummer machen, sie soll doch lediglich wissen, dass ich da bin! 

Ein Klopfen lenkt mich und German an. Unsere Köpfe fahren herum und wir starren beide auf die Tür, als diese sich einen Spalt breit öffnet, der gerade breit ist, dass Violetta hineinhuschen kann. Ihre Augen huschen kurz durch den Raum, dann wirft sie sich in meine Arme und übernimmt die Rolle ihres Vaters, der sich dezent zurückzieht. "Angie, was ist passiert?", fragt meine Nichte besorgt. Ich kann nicht sprechen, mein Hals fühlt sich vom vielen Weinen ganz wund an. Ich drücke sie einfach fester an mich, was Violetta aber nicht zufrieden stellen scheint. "Bitte Angie, rede mit mir, ich mache mir doch nur solche Sorgen um dich! Ich will dich nicht verlieren an diesen ganzen Mist hier, ich will, dass du bei mir bleibst und aufhörst dich selbst zu zerstören", murmelt sie ernst. Verwundert hebe ich den Kopf und blicke in zwei vor Tränen schimmernden braune Augen. "Vilu, ich...", fange ich heiser an, dann spüre ich ihren Blick auf mir ruhen. Habe ich mich verändert oder meine Nichte? Ich habe das Gefühl, als betrachte ich sie auf einmal mit anderen Augen. "Hör auf dir solche Sorgen zu machen Vilu, das hier muss ich ohne dich schaffen. Es ist ein Kampf zwischen meinem Kopf und meinem Herzen und ich will nur, dass sowenige wie möglich darin involviert sind. Ich werde dich niemals alleine lassen, hörst? Du wirst mich nicht verlieren, niemals. Ich kann nicht zulassen, dass ich dich so fertig mache, du hast ein Leben da draußen, lebe es ohne Gedanken an mich zu verschwenden, ich kommen klar, ich brauche nur noch etwas Zeit", rede ich ihr ein ohne auf meine stolpernde, krächzende Stimme zu hören. "An dich kann man keine Gedanken verschwenden, jeder Gedanke ist es wert!", widerspricht sie mir betont. "Vilu..", beginne ich, doch sie lässt mich nicht zu Wort kommen. "Du hast Papa dein Leben zu verdanken, er hat dir eine zweite Chance gegeben, eine Chance, deinen Fehler wiedergutzumachen, aber was machst du? Du trittst diese Chance mit den Füßen. Ich bin hergekommen, weil ich dich vermisst habe und vor Sorgen beinahe umgekommen wäre. Jedes Mal, wenn ich Zeit mit dir verbringe und du lachst, überlege ich mir, ob das Lachen echt ist oder ob du mir etwas vorspielst um von dir abzulenken. Ich habe Angst um dich, ich kann dich nicht verlieren und der Gedanke, dass du in der Lage wärst, dir etwas anzutun, zerreißt mich innerlich mehr als du dir vorstellen kannst", redet sie sich in Rage und bricht in Tränen aus. Ich strecke meine Hand nach ihr aus um diese ihr auf den Arm zu legen doch sie weicht aus. Auch vor German Bemühungen weicht sie zurück. Mit einem letzten schmerzhaften, tränenüberströmten Blick stürmt sie aus dem Zimmer und schlägt die Tür hinter sich zu. 

Ich habe das Gefühl, als würden mir jegliche Gedanken, Tränen und Emotionen im Hals stecken bleiben. Wie versteinert starre ich auf die Tür, die verräterisch weiß ist. Das Weiß ist unpassend, sie sollte leuchtend blutrot sein, wie die Wut auf mich selbst, die sich langsam in mir ausbreitet wie ein Fangnetz im Meer seine Beute festhält. Aber die Wut macht mich nicht stark, sondern lähmt mich. Worte sind so scharf, so verletzend, so gefährlich. Ich fühle mich wie getreten von ihren Worten, vergiftet von meinen Gedanken, erdolcht von meinen Taten. Ich fühle mich schuldig. Und ich hatte Recht, ich bin diejenige, die alles zerstört, wie habe ich mir nur einreden können, dass das nicht wahr ist? "Angie", beschwört mich German leise von der Seite. Bei seinen Worten zucke ich zusammen, ich habe verdrängt, dass er noch hier ist und vor allem, dass er alles mitgehört hat. Hat er ebenso Angst um seine Tochter wie ich? Überlegt er gerade, ob er sie schnappen und abhauen soll? Weg von der Gestörten, die seine Tochter krank macht? Wäre vermutlich die einzig vernünftige Idee in diesem Moment. Haut doch alle ab, lasst mich alleine! Urplötzlich löst sich die Starre von meinen Gliedern und ich springe auf. "Angie, bleib hier, lass Violetta einfach einen Moment alleine. Und nimm ihr ihre Worte nicht übel, sie ist verwirrt und aufgewühlt. Vertrau mir, das Beste, das du gerade tun kannst, ist ihr etwas Zeit zu geben", versucht mein Schwager mich zu beruhigen, tritt einen Schritt auf mich zu und streicht mir über meine Haare. Eine Gänsehaut macht sich auf meinem Körper breit, so sanft ist seine Berührung. Ich schmiege mich näher an ihn, erhasche einen zarten Kuss und spüre seine positive Energie, ehe ich mich sanft aber bestimmt von ihm löse. "Ich vertraue dir, aber ich muss zu Vilu und mit ihr sprechen. Ich will und kann diese Sache nicht unangetastet zwischen uns lassen, ich will, dass wir uns wieder verstehen wie früher, gemeinsam lachen und reden können. Ich bitte dich um dein Vertrauen", schlage ich ihm seinen Wunsch aus. German nickt leicht, das Unbehagen steht ihm jedoch ins Gesicht geschrieben. "Tu nichts Unüberlegtes. Wenn etwas ist, komm sofort wieder her und zwinge dich und Vilu zu nichts. Es braucht Zeit und Vilu ist noch so jung. Ich glaube an dich und das solltest du auch tun. Du bist besser als du dir vorstellen kannst", stimmt er mir zu und drückt mich noch einmal fest. "Bis gleich, pass auf dich auf", flüstert German mir hinterher. Ich spüre seine Blick ebenso wie Ramallos und Olgas Blicke, als ich dem Flur aus dem Krankenhaus folge.

Der Regen peitscht mir erbarmungslos kalt und nass ins Gesicht, der Wind zwingt mich zu kurzem Luftholen mit gesenktem Kopf. Bereits nach wenigen Sekunden ist meine Kleidung vom Regen getränkt und klebt wie eine zweite Haut an mir. Das feuchte Gefühl lässt mich nur noch mehr frösteln. Ich habe diese eine Chance, mit Violetta zu reden, ich muss das aus der Welt schaffen. Sie ist so jung und wenn ich nicht auf sie aufpasse und mich zusammenreiße, wird sie zusammenbrechen. Oder soll ich ehrlich zu ihr sein? Sagen, wie sehr mich die Situation und die Krankheit belasten? Wie sich meine Gedanken drehen und erfüllt sind von einer nagenden Unruhe und fürchterlicher Angst? Dass ich Panik bekomme, wenn ich an meine Zukunft denke, weil sie auf einmal so ungewiss erscheint? Ich muss alles tun, um sie zu schützen. Die Nässe ist jetzt egal, der Regen wird nicht nachlassen, dazu ist der Himmel zu schwarz. Ich werfe einen Blick nach oben, in die silbrig glänzenden Regentropfen und die dunkelgrauen Wolkenungetüme, die sich bedrohlich am Himmel stapeln. Ich muss sie finden. Für sie da sein. Wir brauchen uns. Blindlings renne ich einen Weg entlang, fort von der Klinik, als würde mich eine brennende Kugel verfolgen, deren Flammen mich verzehren können. Doch das Einzige, vor dem ich davonrenne, bin ich selbst.

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