24. Kapitel: Angie

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Er ist tatsächlich in Buenos Aires. Er hat auf mich gehört, obwohl er mich für kaputt hält. Es ist einfach das Beste für ihn, für Violetta und für mich. Niemand darf wegen mir leiden, niemand sollte Tränen wegen mir vergießen müssen.

Ich habe es in meinem Zimmer nicht mehr ausgehalten, ich habe mich auf den Weg gemacht, diese Station zu erkunden. Ich muss doch wissen, wo man mich hingesteckt hat. Nach Psychiatrie sieht es hier auf jeden Fall nicht aus, eher wie in kleines Privatkrankenhaus. Neben Lucia habe ich erst eine einzige Schwester hier gesehen, ein junges, unsicher lächelndes Mädchen, ungefähr zwanzig Jahre alt. Ich bin gerade vor einer geöffneten Tür angekommen, als ich hinter mir Schritte höre. Lucia? Ich drehe mich um und blicke direkt in die Augen von Monsieur Bouvier. Mit gerunzelter Stirn tadelt er mich:" Sie sollten auf Ihrem Zimmer bleiben, Mademoiselle Carrara." Ich nicke schuldbewusst. Bestimmt hat Lucia Alarm geschlagen, weil sie mich nicht gefunden hat. "Ich würde mit Ihnen gerne einige Untersuchungen durchführen. Einmal um ihr Herz zu kontrollieren und um ihren allgemeinen Gesundheitszustand durchzuchecken. Ist das okay für Sie?", fragt er mich. Was soll ich da groß ablehnen, das ist ja wohl keine Frage sondern vielmehr eine Aufforderung. Also nicke ich. "Dann folgen Sie mir bitte", fordert er mich auf und läuft zielstrebig voraus. Zwei Türen weiter hält er an und öffnet mir die Tür. "Ich werde mit Ihnen ein EKG durchführen." Monsieur Bouvier befestigt Elektroden an meinem Oberkörper und meinen Armen und kontrolliert das Gerät. Kurze Zeit später ist er fertig und hält mir ein Blatt vor mein Gesicht. "Unauffällig", sagt er bloß. Nachdem ich mich wieder vollständig angezogen habe, führt er mich zu einem Laufband. "Dieses Laufband passt sich ihrer Geschwindigkeit an. Ich werde es verwenden um zu schauen, wie gut Ihre Ausdauer ist und wie Ihr Herz auf sportliche Belastung reagiert. Sobald Sie anfangen zu laufen, startet das Laufband", weist er mich an. Zuerst jedoch führt mich Monsieur Bouvier in einen kleinen Raum, in Regalen liegen hier Sportschuhe, T-Shirts und Hosen. "Stellen Sie sich einfach etwas Passendes zusammen und legen dann los", erklärt er mir und schließt die Tür hinter sich. Na dann mal los. Ich schnappe mir passende Schuhe, eine schwarze Hose und ein weißes Top und zeihe mich um. Als ich umgezogen zu dem Laufband gehe, befestigt Monsieur Bouvier wieder die Elektroden an mir. "Starten Sie, sobald Sie sich bereit fühlen", fordert er mich auf und setzt sich vor einen Monitor. Unsicher stelle ich einen Fuß auf das Band. Ich bin verunsichert, doch ich beginne langsam zu laufen. Eine Anzeige auf dem Monitor des Laufbands geht auf und zeigt mir meinen Puls und die Geschwindigkeit an. Ich beginne locker zu laufen und merke, wie meine Muskeln sich entspannen. Ich schließe meine Augen und genieße das Gefühl, nur meine Füße in meinem gleichmäßigen Tempo zu hören. Ohne es zu merken erhöhe ich die Geschwindigkeit. Langsam öffne ich meine Augen und beobachte Monsieur Bouvier. Vollkommen auf meinen Herzschlag vertieft sitzt er vor dem Bildschirm. Eine neue Anzeige erscheint auf dem Monitor, sie zeigt die verbrauchten Kalorien an. 300 kcal sind es bereits. Ich erhöhe das Tempo, doch die Anzeige erlischt. Ich laufe einfach weiter, meinen Rhythmus einmal gefunden, könnte ich eine Weile so laufen. Ich sehe, wie Monsieur Bouvier aufsteht und zu mir herüber läuft. Er bittet mich abzusteigen und mich umzuziehen. Ob alles gut gelaufen ist? Schwindel habe ich beim Laufen nicht gespürt, die Anstrengung hat mir richtig gut getan. "Ich werde Ihnen noch etwas Blut abnehmen", warnt mein Arzt mich vor und tut wie gesagt. 

Kurze Zeit später sitze ich mit ihm in einem weiteren Zimmer. "Ihre Werte sind eigentlich ziemlich normal. Das erscheint mir etwas merkwürdig, da wir in letzter Zeit Probleme mit ihrem Herzen hatten. Ich werde morgen weitere Tests mit Ihnen durchführen, ich möchte ganz sichergehen, nicht, dass ich etwas übersehe und Ihr Leben aufs Spiel setze", erzählt er mir. Ich nicke und er verlässt den Raum. Ein Blick auf die Wanduhr verrät mir, dass jetzt eigentlich Mittagszeit ist. Wenn ich jetzt in mein Zimmer gehe, wird mich Lucia dazu zwingen, etwas zu essen. Ich kann nicht, auch wenn es wichtig für mich ist. So wie ich dafür sorge das es Anderen schlecht geht, indem ich ihnen etwas für Menschen Lebensnotwendiges wegnehme-die Freude, das Glück-, so nehme ich mir etwas Lebensnotwendiges. Das Essen. 

Monsieur Bouvier macht gerade sicherlich Mittagspause und Lucia wird auf mich warten. Ich muss irgendetwas tun und ich habe schon eine Idee. Ich husche leise in das Zimmer mit dem Laufband, ziehe mich erneut um und schließe die Tür. Die Luft ist rein, keiner wird etwas merken. Ich laufe und laufe, mein Herz pumpt heftig, meine Lunge fühlt sich an wie kurz vor dem Zerbersten. 500 kcal. Ich gebe Gas, hole alles aus mir heraus. Plötzlich merke ich, dass sich das Zimmer anfängt zu drehen. ich blinzle, ignoriere das Gefühl und laufe weiter. 650 kcal. Schwarze Punkte tanzen vor meinen Augen. Ich keuche, mir wird schlecht. Weiter, immer weiter. 700 kcal. Da geben plötzlich meine Beine nach und ich stolpere. Als mein Kopf auf dem Laufband aufschlägt, wird alles schwarz.

"Angeles!", ruft mir jemand ins Ohr und schüttelt mich vorsichtig. Was ist passiert? Mühsam öffne ich meine Augen. Schwester Lucia, sehe ich auf einem Namenschild. Benommen versuche ich mich aufzurichten, doch der Schwindel ist stärker. Ohne die stärkenden Arme Lucias wäre ich jetzt wieder auf dem Boden. "Vorsichtig", weist sie mich an und hilft mir mich aufzusetzen. Sie hält zwei Kissen unter den Armen und legt sie auf den Boden. "Auf das eine Ihr Kopf, auf das andere Ihre Beine", befiehlt sie mir. Irgendwie gelähmt folge ich ihren Anweisungen. "Seien Sie vorsichtig, Angeles. Es gibt Dinge, die sollte man sein lassen. Irgendwann ist genug. Hören Sie auf die Signale Ihres Körpers, auch wenn alles in Ihnen sich dagegen sträubt. Es gibt Menschen, die wollen Sie nicht verlieren, Menschen, die Sie lieben, die alles dafür geben würden, Ihnen helfen zu können. Sie sind niemals alleine. Hören Sie auf Ihr Innerstes", flüstert sie. Hat sie Recht? Wann ist genug? Bringe ich meine Mitmenschen durch mein Handeln in Gefahr? Bin ich egoistisch, gestört und am Ende? Woher soll ich die Wahrheit nehmen?


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