91. Kapitel: German

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Zu sehen, wie Angie die Tränen über das Gesicht strömen, bricht mir das Herz. Sie hat es wieder getan. Ob bewusst oder unbewusst, sie hat ihre Maske aufgesetzt, damit wir nicht merken, wie zerrissen sie innerlich noch immer ist. Damit wir ihr die Schwäche, die sie so fertigmacht, nicht ansehen. Ich überwinde die wenigen Meter, die mich von ihr trennen und komme gerade noch rechtzeitig um sie aufzufangen. Zusammengebrochen unter der Last, die sie die ganze Zeit mit sich herum getragen hat. Ich halte sie in meinen Armen, betrachte ihr tränennasses Gesicht zärtlich. "Wieso sprichst du denn nie mit mir?", seufze ich leise. Ich könnte ihr niemals einen Vorwurf für ihr Verhalten machen, das würde ich mich niemals trauen und es ist unnötig. Angie handelt so wie sie denkt, dass es für sie und alle anderen am besten ist. Dass das nicht immer zutrifft ist vorherzusehen. Wie viel muss es sie gekostet haben, all ihre Sorgen vor mir geheim zuhalten? Dass sie enorm viel aushalten kann, hat sie mehr als einmal gezeigt. Mein Respekt vor ihr ist grenzenlos. Und es ist verständlich, dass sie bei der ersten Unsicherheit wieder ihre Mauern hochzieht und sich hinter ihrer eisernen, lächelnden Maske vergräbt. Sie muss sich so alleine gefühlt haben. 

Blinzelnd kommt Angie wieder zu sich. Ich will mir gar nicht vorstellen, wie groß der Druck in ihr gewesen sein muss, dass sie zusammengebrochen ist. Ihr Blick ist klar, als er meinem begegnet, doch in dem Moment, in dem sie die Situation erfasst, trübt er sich und wieder schießen ihr Tränen in die Augen. Und dann werde ich Zeuge ihrer Transformation. Sie zwingt sich ein Lächeln ins Gesicht und blinzelt und um die aufsteigenden Tränen zu verscheuchen. Sie holt Luft um etwas zu sagen, doch ich lege ihr meinen Zeigefinger auf die Lippen. "Lass es zu, Angie. Verstecke dich nicht vor mir", flüstere ich ihr zu und berühre sanft ihre Wange. Angie richtet sich in meinen Armen auf, dann vergräbt sie ihren Kopf an meiner Schulter. "Es tat so weh ihre Worte zu hören", schluchzt sie auf. "Keine Sekunde hätte ich das länger ausgehalten". Dann wird sie von einem Schluchzer geschüttelt. Ich spüre, wie ihre feuchten Tränen mein dünnes Hemd durchdringen. Ich schließe meine Arme um ihren schmalen Körper und streiche ihr sanft über das goldene Haar. Als ihre Tränen schließlich versiegen löst sie sich von mir und lehnt sich erschöpft an meinen Schreibtisch. "Ich weiß nicht, ob ich mit dir sprechen kann, German. Ich vertraue dir, ich... ich, ich liebe dich mehr als alles andere auf dieser Welt, aber ich, ich kann nicht", murmelt sie verzweifelt. "Ich werde dich niemals zwingen mit mir zu reden, wenn es dir unangenehm ist. Ich möchte, dass du dich gut fühlst. Ich bin für dich da, ich bin an deiner Seite, aber ich werde mich dir nicht aufdringen. Ich will einfach wissen, dass es dir gut geht!", beruhige ich sie. 

"Seid ihr hier?", höre ich eine Stimme, dann wird die Bürotür aufgerissen. Es ist Violetta, die in der Tür steht. Angie wirft mir einen verzweifelten Blick zu, doch es ist zu spät. Meinte Tochter hat uns auf dem Boden entdeckt und eilt mit besorgtem Blick auf mich und ihre Tante zu. "Um Gottes Willen, Angie! Kann ich was für dich tun? Was ist passiert?", fragt sie überstürzt und kniet sich neben uns. Sie schnappt Angies Hand und streicht sie beruhigend. "Ich habe Angelica aus dem Haus stürmen sehen, war sie bei euch?", will sie wissen. Ich atme zischend aus. Neben verkrampft sich Angie's Körper, schüttelt sich, ehe Angie die Kontrolle zurück hat. "Es tut mir so leid, falsches Thema", entschuldigt sich meine Tochter. Sie wirft mir einen überaus verzweifelten Blick zu. "Geh zurück zu deinen Freunden, Vilu. Ich bleibe bei Angie. Es wird alles gut, vertraue mir", beschwöre ich sie. Sie wirft mir einen erleichterten Blick zu und verschwindet nicht ohne ihre zitternde Tante einmal in den Arm zu nehmen und ihr etwas Unverständliches ins Ohr zu flüstern. 

Angie steht auf und läuft nervös hin und her. Ich beobachte jeden ihrer beinahe unsicheren Schritte. Ich mache mir so schreckliche Sorgen um sie, es zerreißt mich beinahe. Plötzlich bleibt sie stehen. "Vielleicht hat Angelica Recht. Ich bin die Schwächste aus unserer Familie, schau dir mich doch mal an: Ich halte es keinen Tag aus, ohne in Tränen auszubrechen und mein Leben zu verfluchen. Ich bin ständig am Boden und nicht in der Lage, mit irgendjemandem über meine Gefühle zu reden. Alles überfordert mich und damit bin ich in meiner Familie alleine. Maria hat immer alles erreicht, ganz ohne Schwierigkeiten. Und dass Mama alles schafft, sieht man ihr doch auch an. Und dann komme ich. Klinikaufenthalt. Psychisch instabil. Ich gehöre da nicht dazu, ich bin so verdammt schwach. Wieso habe ich nicht auch so eine dicke Haut wie der Rest meiner Familie? " Von meiner Perspektive aus sehe ich, wie sich tiefe Sorgenfalten in Angies hübsches Gesicht graben. "Du bist doch nicht schwach! Du bist eine Kämpferin, du hast mehr durchgemacht als der Rest deiner Familie, aber du lebst. Okay, du bist noch nicht wieder gesund, aber du gehst diesen Weg der Besserung nicht alleine. Und dass du es schaffen wirst, all die negativen Dinge hinter dir zu lassen, dessen bin ich überzeugt", versuche ich verzweifelt, sie zu überzeugen. Entmutigt sehe ich, dass meine Worte kaum eine Reaktion bei ihr hervorrufen. Sie ist in ihren eigenen, dunklen Gedanken versunken, aus denen ich sie nicht hervorholen kann. Da dreht sie sich zitternd zu mir um. "Habe ich mir all die schönen Dinge der letzten Zeit nur eingeredet? Bin ich nicht mehr in der Lage, meine Gefühle zu steuern? Kann ich mir die Freude nur eingeredet haben? War das alles nur eine Lüge? Ich verstehe es nicht German, bitte hilf mir!", gebrochen dringt ihre Stimme dünn an mein Ohr. Ich kann nicht. Ich weiß nicht, was ich tun kann, außer ihr gut zuzusprechen. Jetzt bin ich an dem Punkt, an dem ich nicht mehr weiterweiß. Und es tut so weh. Vielleicht kann Lucia helfen, sie muss. Ich muss etwas tun. Dass kann ich ihr nicht antun. Es muss eine Lösung geben. Lucia muss sie kennen, ich kann Angie nicht alleine lassen. Ich muss alles für sie geben, die Lösung finden, ihr helfen. Sie ist so einzigartig, sie ist so wundervoll, aber das erkennt sie nicht. Sie ist blind für all die guten Dinge, die von ihr ausgehen, sie ist blind für die wundervollen Dinge, die man nur mit ihr erleben kann. "German?", sanft höre ich ihre Stimme an meinem Ohr. Ängstlich starre sie an, ich habe so große Angst um sie. Nie war mir das so bewusst wie in diesem Moment. "Ich kann einfach nicht mehr", flüstert sie resigniert. Ich darf sie nicht verlieren, es darf nichts passieren. Es kann nicht! 

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