30. Kapitel: Angie

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Meine Mama ist enttäuscht von mir. Ihre Worte hatten mich mehr getroffen als ich je gedacht hatte. Ich habe sie zum Weinen gebracht. Ich bin Schuld daran, dass meine starke Mama, die Frau, die schon so vieles hatte verkraften müssen, anfängt zu weinen. Die mit ihrer Tochter am Ende ist, die völlig verzweifelt ist. Ich habe tatsächlich gedacht, es sei das Beste mit ihr zu sprechen, sie nicht anzulügen und ihr die komplette Wahrheit zu sagen. Doch auch die Wahrheit tut weh. Von wegen kurzer Schmerz, ich fühle mich wie ausgelaugt, als hätte mich jemand angezapft und meine komplette Energie aus meinem Körper gezogen. Monsieur Bouvier hatte meine Kopfwunde genäht, mir Blut abgenommen und sowohl ein EKG als auch ein CT gemacht. Er ist der Meinung, er hätte etwas übersehen, das ihm erklären könnte, wieso ich ohnmächtig geworden bin. Ich hatte die ganze Prozedur ohne einen Ton von mir über mich ergehen lassen. Und nun saß ich alleine in diesem Raum. Ich hätte tatsächlich gerade gerne einen Menschen, der mich einfach in den Arm nimmt und mich beruhigt. Ein schöner Traum. 

Auf was muss ich hier denn überhaupt noch warten? Monsieur Bouvier hat noch etwas Anderes zu erledigen und keiner hat mich bisher zurück in mein Zimmer gebracht. Vielleicht muss ich das ja auch selbst tun? Gerade als ich aufstehen möchte, öffnet sich die Tür und Schwester Lucia kommt herein. "Er hat die ganze Zeit auf dich gewartet", haucht sie mir in mein Ohr und gibt dann mein Blickfeld frei. Da steht er, German. "Wie geht es dir?", fragt er höflich. "Besser", antworte ich knapp. Irgendetwas in mir regt sich, aber ich kann es nicht zuordnen. "Na los, wir bringen dich mal zurück", unterbricht Lucia die Stille und macht einen Schritt in Richtung Tür.  Dankbar stehe ich auf und laufe auf noch immer wackeligen Beinen aus der Tür hinaus. Dass Germans Blick auf mir ruht, kann ich sagen, ohne mich umdrehen zu müssen. 

Ich setze mich auf mein Bett und warte auf German. Es ist mir vollkommen klar, dass er kommen wird, selbst wenn ich es ihm verboten hätte. Ich liege tatsächlich richtig. "Du hast Angelica angerufen", stellte er fest. Was soll ich da schon groß sagen? Ich nicke. "Hast du ihr die Wahrheit erzählt? Dass du im Klinikum liegst?", fragt er nach. Wieder nicke ich. "Und?", hakt er nach. "Sie war erst sauer, dann hat sie geweint", antworte ich kurz aber präzise. "Es ist sicherlich gut, dass du versuchst mit deiner Mutter zu sprechen", führt German das Gespräch fort. Ich zucke mit den Schultern. Dieses Gespräch nimmt eindeutig einen komischen Lauf. "Sag doch auch mal was", fährt German mich leise an. "Was denn?", gebe ich zurück. Jetzt ist es an ihm den Kopf zu schütteln. Er zieht sein Handy aus der Tasche und verabschiedet sich. Einen Moment lang bleibe ich noch in meinem Bett sitzen und wiege meine Möglichkeiten ab, dann springe ich auf und öffne meine Zimmertür. German steht wenige Meter von mir entfernt und beobachtet die Wand, während er anscheinend darauf wartet, dass sein Gesprächspartner abnimmt. "Hallo Angelica", begrüßt er die Person. Er telefoniert mit meiner Mama? Wieso denn das? Möchte er mich kontrollieren und wissen, ob ich tatsächlich mit ihr geredet habe? "Was hast du getan", höre ich meine Mutter durch das Telefon fauchen. Sie muss wirklich aufgebracht sein, wenn sogar ich sie von meiner Tür aus hören kann. "Ich habe Angie gar nichts getan. Sie hat etwas an ihrem Herz, deshalb leidet sie unter Schwindelattacken und ist mehrmals zusammengebrochen", antwortet German kalt. Irgendwie schmerzt es mir, dass German und Mama sich so anfauchen. Ich bin die Einzige, die hier schuldig ist, da macht es keinen Sinn, wenn man sich gegenseitig beschuldigt. Die Antwort von Mama verstehe ich leider nicht. "Nein, du musst nicht herfliegen. Kümmere dich lieber etwas um Violetta. Und natürlich bekommen die Ärzte auch Angies Essstörung wieder in den Griff. Es sind Ärzte, die haben Medizin studiert", antwortet er auf das Gesagte und legt auf. Ich husche blitzschnell zurück in mein Zimmer und setze mich an meinen Schreibtisch. 

"Musste das sein?", frage ich, als German wenige Minuten später in mein Zimmer kommt. Er schaut mich fragend an. "Das Gespräch mit Mama war kaum zu überhören", füge ich erklärend hinzu. German wich buchstäblich die Farbe aus dem Gesicht. "Sie macht sich nur Sorgen. Sei nicht so streng mit ihr", versucht er es. "Streng mit ihr? Musstest du unbedingt wissen, ob ich dich anlüge oder was sollte das? Und meine Mama weiß sehr wohl, zu was Ärzte in der Lage sind, verstanden?", meine ich bissig. Der Kommentar zum Thema Essstörung hatte mich in Rage versetzt. Wie kann er nur so über mich sprechen? "Angie versteh mich doch...", fängt er an, doch ich unterbreche ihn. "Lass gut sein German. Dass meine Mama sich Sorgen um mich machen muss, liegt ja wohl an mir. Mach dir doch einfach mal einen schönen Tag hier und lass mich meine Probleme selbstständig lösen", sage ich. Er schaut mich zweifelnd an, verlässt aber ohne ein Wort zu sagen das Zimmer. Erleichtert atme ich aus. Ich weiß überhaupt nicht, wieso es mich so erleichtert, wenn ich nicht mit German in einem Zimmer bin. Es ist, als würde etwas in der Luft liegen, als wäre die Luft schwerer und alles fühlt sich so anders an. Was macht dieser Mann nur? 

Ich ziehe ein Blatt aus einer Schublade und schreibe. Was gerade passiert ist, werde ich vermutlich nie vergessen. Meine Mama hat um mich geweint. Ich habe sie angerufen und sie war verzweifelt. Germans Anruf daraufhin hat sie wütend gemacht. Wenn jemand wütend ist, heißt es, dass man ihm wichtig ist. Meine Mama scheint mich wirklich noch immer gernzuhaben, trotz der Probleme, die ich ich bereite. Vielleicht wäre es besser gewesen, ich hätte sie doch nicht angerufen. Woher soll ich wissen, was die richtige Entscheidung gewesen wäre? Ich werde nie erfahren, was passiert wäre, hätte ich etwas Anderes gemacht. Ich verstaue den Zettel neben den anderen und lege einen neuen Zettel darüber. Dabei fällt mein Blick auf ein zusammengefaltetes Blatt Papier. Ich erkenne es auf den ersten Blick. Ich habe es beschrieben, als ich mit German in meiner Wohnung saß. Meine Finger fahren an die Faltkante entlang. Soll ich es lesen? All das, was ich gedacht habe? Notizen aus einer noch nicht so fernen Vergangenheit und doch so lange her. Ich habe tatsächlich Angst vor einem kleinen Blatt Papier? Es ist persönlich und macht mich auf eine komische Art und Weise fertig. Will ich mich haargenau erinnern? An meine Gedanken und Gefühle, an meine kleine feine Vergangenheit? Ich möchte abschließen, doch ich kann es nicht. Werde ich jemals loslassen können? 


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