35. Kapitel: German

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Ich fühle mich auf eine merkwürdige Art erleichtert. Nach langer quälender Zeit, habe ich endlich meinen Mut zusammengekratzt und Angie gesagt, was ich denke. Ich kann nicht wirklich einschätzen, ob meine Worte sie wachgerüttelt haben, ob sie ihren Zweck erfüllt haben, aber Angie hat sie gehört. Ich hoffe, sie hat verstanden, wie viel sie mir immer noch bedeutet und das diese Bedeutung nicht abnehmen wird. Angies Blick nach, sind die Worte zu ihr hindurch gedrungen, genauso wie zu Lucia. Vielleicht hat diese ja mit Angie über meine Worte gesprochen. Angie braucht etwas, irgendeinen Moment, etwas, das ihr zeigt, wie toll sie ist. Es tut mir so weh zu sehen, wie sie immer mehr verzweifelt, wie sie sich immer mehr hasst und sich entfernt. Leider weiß ich keinen Rat, wie ich so einen Moment auslösen kann. Ich versuche, immer in ihrer Nähe zu sein und ihr das Gefühl zu geben, dass ich immer für se da bin, mehr kann ich nicht tun. Vielleicht hat Lucia ja die ein oder andere Anregung für mich. Langsam wird es spät und mein Bauch knurrt. Ich werde mir etwas zu essen holen und mich danach noch einmal ins Klinikum begeben. Hoffentlich kann Lucia mir noch ein paar Ratschläge geben. 

Nachdem ich in einem kleinen Restaurant mein Abendessen zu mir genommen habe, mache ich mich auf den Weg. Ich bin wirklich froh, dass sich eine so reizende Frau wie Lucia um Angie kümmert. Ich habe einfach das Gefühl, dass Angie bei ihr in den richtigen Händen ist. Sie hat eine Art mit den Menschen umzugehen, die mich an Angie selbst erinnert. Auch Angie ist zu allen freundlich und sieht in ihnen immer das Positive, kann aber auch energisch werden, wenn jemand eine Meinung hat, zu der sie selbst nicht steht. Vielleicht ist es das, was mir Lucia so sympathisch macht. 

"Monsieur Castillo, ich muss sie leider enttäuschen, Mademoiselle Carrara ist nicht hier. Sie hat sich vor circa einer Stunde mit Mademoiselle Lucia auf einen Spaziergang begeben. Sie wollten in einen Park gehen, der hier ganz in der Nähe ist. Wenn es sehr dringend ist, kann ich Ihnen gerne den Weg beschreiben", erklärt Monsieur Bouvier mir die Lage, als ich wenig später im Klinikum nach Angie Ausschau halte. Ich nicke ihm dankend zu. Zehn Minuten später mache ich mich auf den Weg. Der Park ist tatsächlich nicht weit entfernt. Schon als ich mich nähere, sehe ich Angie und Lucia auf einer weißen Bank direkt am Eingang des Parkes sitzen. Angie hat die Arme um Lucia geschlungen, diese klammert sich an Angies Rücken und scheint zu weinen. Ich trete näher. Tatsächlich, wenige Meter weiter bestätigt sich mein Verdacht. Das leise Schluchzen ist bis hierher zu hören. Was mag bloß passiert sein? Körperlich scheint es beiden gut zu gehen, keiner hat irgendwelche erkennbaren Schrammen am Körper. Ich gehe auf die beiden zu. Angie beruhigt Lucia, die wirklich am Ende zu scheinen ist. Es ist ein rührendes Bild zu sehen, wie vorsichtig Angie mit Lucia umgeht. Als Angie meine Schritte hört, dreht sie mir ihren Kopf zu. Ich erkenne den besorgten Glanz in Angies Augen und kann nicht anders als zu lächeln. Dieser ausdruckslose Blick, er ist weg! Ich lege Lucia eine Hand auf den Rücken. Sie scheint mich erst in diesem Moment wahrzunehmen und zuckt zusammen. "Hat Monsieur Bouvier Sie geschickt?", fragt sie mit tränenerstickter Stimme. Ich schüttele den Kopf. "Nein, ich habe euch gesucht", antworte ich. "Was ist denn los?", frage ich nach, um die Situation verstehen zu können. Angie wirft Lucia einen langen Blick zu. "Kann ich dich kurz alleine lassen und mit German sprechen?", fragt sie diese leise. Lucia lächelt tapfer, ihr Schluchzen ebbt langsam ab. Ich greife in meine Tasche und reiche ihr ein Taschentuch. Angie steht auf, streicht Lucia noch einmal über den Rücken und deutet mir dann an, mit ihr eine Runde durch den Park zu drehen.

Die ersten Meter sagt keiner von uns ein Wort. Die Sonne beginnt zu versinken und es ist alles in ein sanftes Licht gehüllt. "Lucia...Lucia hat mir von ihrer Vergangenheit erzählt. Ein junges Mädchen, für das sie die Verantwortung übernommen hatte, hat sich eines Tages das Leben genommen. Lucia gibt sich die Schuld daran und meint, sie wäre nicht gut genug für sie da gewesen. Lucia hat lange darüber geschwiegen, ich bin die Erste, der sie davon erzählt hat. German, wieso hast du mich nicht aufgegeben?", bricht sie das Schweigen. Lucia hat eine Patientin verloren? Das arme Mädchen, das hatte Monsieur Bouvier in seiner Predigt zu Lucia gemeint. "Ich brauche dich, Angie. Es tut mir weh zu sehen, wie du dich jeden Tag aufs Neue aufgibst, wie du vergessen scheinst, wie toll und einzigartig du bist. Nicht nur ich brauche dich und habe dich nicht aufgegeben, Violetta, Angelica, auch Pablo und das gesamte Studio stehen hinter dir! Du bist für uns alles eine wunderbare Person!", antworte ich nachdenklich. "Wieso bist zu zurück gekommen? Wieso bist du nicht einfach mit Vilu in Buenos Aires geblieben und hast mich vergessen, mich mit meinen ganzen Problemen?", fragt sie weiter. "Ich weiß nicht. Ich konnte dich nicht zurücklassen, allein der Gedanke, das du alleine in diesem Klinikum bist, hat mir beinahe das Herz zerrissen. Du sahst so zerbrechlich aus, ich hatte schreckliche Angst um dich", erwidere ich. "Für was hältst du mich?", fragt sie nach. "Für einen wundervollen Menschen, der sich manche Dinge einfach für zu wichtig nimmt und dem dadurch die Sicht auf das Wichtigste versperrt bleibt. Du bist wie jeder Mensch einzigartig. Ich halte dich für die Person, die mit ihrem Lächeln jeden überzeugen kann, deren Liebe zur Musik stärker ist als alles andere", antworte ich wahrheitsgemäß. Ich musste über diese Worte nicht nachdenken, sie kamen einfach heraus, als warten sie schon lange auf diesen Moment. Angie steht mir gegenüber, sie sieht so verändert aus, nichts erinnert an das ausdruckslose Gesicht, an die abweisende Haltung. Langsam wandern ihr Mundwinkeln nach oben und mit ihrem Lächeln kommt das Strahlen in ihre Augen zurück. Sie sieht so wunderschön aus, blass, dünn, aber schön. Ich weiß nicht, wie mir geschieht, ich komme Angies Gesicht näher, mein Herzsclag beschleinigt sich und plötzlich berühren meine Lippen die ihren. Als würde ein Feuerwerk in meinem Körper explodieren. Plötzlich ist mir alles egal, nur dieser Moment, Angies Lippen vereinigt mit meinen zählt. Ist das der Anfang eines neuen Abschnittes? Ist das Schlimmste überstanden? Ich weiß es nicht, doch dieser Moment ist perfekt.

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Hey, ich hoffe, ihr hattet alle ein tolles Weihnachtsfest :) So wie versprochen, German hat tatsächlich etwas getan! Es ist nun auf den Tag genau ein Jahr her, dass ich mich bei Wattpad angemeldet habe und ich bereue es bis heute nicht. Ich liebe es, in den verschiedensten Geschichten zu stöbern, hier etwas zu veröffentlichen und eure Reaktionen drauf zu lesen. Und nun bleibt mir nichts anderes mehr übrig, als mich wieder einmal herzlichst bei euch zu bedanken und euch einen guten Rutsch ins neue Jahr zu wünschen ;)


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