33. Kapitel: German

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Kaum habe ich das Gespräch abgewickelt und somit einen neuen Auftrag an Land gezogen, wandern meine Gedanken zu Angie. Sie strahlt Zerbrechlichkeit aus und doch habe ich heute im Park etwas in ihr gesehen, was ich schon lange vergeblich bei ihr gesucht habe. Hoffnung. Sie hat in diesem Park etwas gefühlt, dass diese Hoffnung in ihr geweckt hat. Vielleicht war es die frische Luft, vielleicht der Park an sich. Vielleicht war es meine Umarmung. Es hat sich so gut angefühlt, endlich mal wieder Angie in den Armen halten zu können, ohne das sie mich fort stößt. Ihr schmaler Körper so nah an mir wie schon lange nicht mehr. Es war echt. Keine Maske, nichts gespieltes. Angie hat mir einen Einblick in sich selbst gewährt. Und doch weiß ich, dass in Angie etwas passiert, was ich mir gar nicht vorstellen kann. Sie hat Angst, sie hat vor allem Angst vor sich selbst.

Ich beschließe zum Abschluss dieses Tages noch ein letztes Mal bei Angie vorbei zu schauen und mache mich sogleich auf den Weg. Wird Angie ihre Mauern wieder hochgezogen haben und mich mit ihrem ausdruckslosen Gesichtsausdruck beobachten und anschweigen oder zeigt sie sich mir? Ich wünsche mir mehr als alles andere zu wissen, was genau ihr Sorgen bereitet. Das ist der einzige Weg um ihr wirklich helfen zu können. Maria hätte genau gewusst, was sie sagen müsste. Sie hätte Angie helfen können, sie beruhigen. Doch Maria ist nicht mehr unter uns und ich bin ratlos. Ich hätte so gerne einen Rat, wie ich mich verhalten soll, wie ich mit Angie sprechen soll, was ich tun soll. Ich muss ihr doch irgendwie helfen können, es kann doch nicht sein, dass Angie keine Energie mehr finden kann, die ihr hilft aus dieser verfluchten Magersucht herauszukommen. 

Wie gewohnt fahre ich mit dem Aufzug auf die Station und laufe direkt in Richtung Angie, als ich zwei Stimmen hören. Diese sind schnell zugeordnet. Es müssen Lucia und Monsieur Bouvier sein, die sich gedämpft aber dennoch gut hörbar streiten. Ich sollte das nicht tun, aber als der Name Angie fällt, belausche ich die Beiden. "...meine Schuld. Ich weiß einfach nicht, wie ich an sie heran kommen soll", erzählt Lucia gerade. Sie scheint richtig verzweifelt zu sein. "Sie sind hier eingestellt worden, um Patienten zu helfen!", fährt Monsieur Bouvier seine Untergebene an. "Es tut mir ja auch wirklich leid, Monsieur. Ich tue alles, ich spreche mit ihr, ich höre ihr zu. Sie will nicht, da kann ich nichts tun, entschuldigen Sie", meint Lucia leise. "Mir ist vollkommen bewusst, dass eine psychische Krankheit nicht in einer Woche heilbar ist, ich habe Medizin studiert! Ich werde Mademoiselle Carrara nicht aufgeben, genauso wie Sie, ich bin kein Unmensch! Sie hat schon lange keinen Bissen mehr zu sich genommen, ohne die Vitamine und Nährstoffe, die wir ihr in den Tee geben, wäre sie schon längst viel schwächer. Sie müssen etwas unternehmen, bevor es zu spät für sie ist, wenn sich nicht bald etwas an ihrem seelischen Zustand ändert, wird das schwerwiegende Konsequenzen für Mademoiselle Carrara haben, dessen müssen Sie sich doch bewusst sein. Ich werde es nicht soweit kommen lassen, dass es hier einen Suizidversuch gibt, haben Sie das verstanden?", belehrt der Arzt Lucia. "Glauben Sie, es steht so schlecht um Sie?", fragt Lucia vorsichtig weiter. Sie spricht mir aus der Seele. Was Monsieur Bouvier da gerade von sich gegeben hat, hat mir kurzzeitig die Luft genommen. Suizidversuch? Das ist das Letzte, das ich von Angie erwarten könnte. Sie ist so unglaublich stark, auch wenn sie das selbst gerne vergisst. Sie ist eine Kämpferin und so tapfer, sie wird nicht klein beigeben. "Ich denke, dass wir vorsichtig sein müssen. Sie wissen wahrscheinlich mit am besten, wie schnell sich die Launen der Patienten umschlagen können. Ich bin Arzt, meine Aufgabe ist es Leben zu retten und genau das werde ich tun. Mademoiselle Carrara hat enorm viel Potential, ich bin mir sicher, sie könnte es schaffen, der Magersucht den Rücken zu kehren. Doch sie braucht Ihre Unterstützung. Ich zähle auf Sie", gibt er zur Antwort. Das Gespräch scheint beendet und bevor ich erwischt werde, husche ich zu Angies Zimmer und öffne die Türe.

Da liegt sie in ihrem weißen Bett und zittert. Mit einem Satz stehe ich neben ihrem Bett und betrachte ihr schmales Gesicht, die aschfahle Haut, die eingefallenen Wangen. Ich lege vorsichtig meine Hand auf ihren dünnen Arm und sie öffnet sofort die Augen. "German", wispert sie und ein leises Lächeln huscht über ihr knochiges Gesicht, welches leider sofort wieder verschwindet. Sie ist dabei zur Make zu greifen und das muss ich verhindern. "Angie, ich bin froh dich zu sehen", fange ich unsicher an. Mir fehlt der Mut, die Zuversicht, die Sicherheit. Ich merke, wie Angie innehält. "Was ist los mit die German? Du hast etwas auf der Seele, das sehe ich dir an", fragt sie leise. Bei ihren Worten muss ich mich zwingen, nicht laut aufzuschnauben. Sie ist diejenige, die ein Problem hat, die Frage hätte ich ihr stellen müssen, nicht anders herum. Ich betrachte die stumpfen blauen Augen, die mich immer noch in ihren Bann ziehen. Hat Monsieur Bouvier Recht? Versucht Angie von sich abzulenken? "Ich mache mir Gedanken um dich", antworte ich wahrheitsgemäß. Angies Augen weiten sich kaum merklich. "Nein", flüstert sie, "nein German, bitte nicht. Ich bin hier, mir wird geholfen und du musst dir keine Sorgen machen. Kümmere dich um dein Leben, um Violetta, aber nicht um mich!" "Angie das ist Unsinn", fahre ich sie an, "du bist mir verdammt nochmal ziemlich wichtig, wann siehst du das endlich einmal ein? Ich bin nur hier, weil ich dir helfen möchte, weil ich mir ein Leben ohne dich nicht vorstellen kann. Mir ist es egal,was du mir schon alles vorgeworfen hast, ich entschuldige mich sooft du nur willst für das, was ich dir angetan habe, aber ich will dich nicht verlieren! Was ich in der Vergangenheit alles getan habe, ist unverzeihlich, das weiß ich. Du bist mir so wichtig, gebe dich nicht auf, gebe niemals auf. Maria wäre stolz auf dich, wenn sie wüsste, wie tapfer du dich hier durchkämpfst, geb das hier nicht alles einfach auf, bitte." Ich merke, wie mir tatsächlich Tränen in die Augen steigen. Angie ist einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben, ich kann nicht ohne sie. Sie tut keinem einen Gefallen, wenn sie so weiter macht. Ich erwarte keine Antwort von Angie, dass sie den Kopf anhebt und mich mit großen Augen anstarrt, reicht mir als Antwort. Meine Botschaft ist angekommen, jetzt muss ich nur noch warten, bis Angie bereit ist darauf zu reagieren. Ich werfe Angie noch eine letztes trauriges Lächeln zu, dann verlasse ich Angies Zimmer. Aus den Augenwinkeln nehme ich noch wahr, wie Lucia mir ebenfalls mit Tränen in den Augen den hochgestreckten Daumen zeigt und sich dann über die Augen wischt. Ich sehe unscharf, Tränen lassen mein Sichtfeld verschwimmen. Ich werde warten, egal wie lange Angie braucht. Ich werde da sein, wenn sie bereit ist. Ich werde für sie kämpfen, sie unterstützen und stützen. Egal wie lange es dauert.


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