Kapitel 2

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Theo

Ich war also in der Hölle angekommen.

Ich starrte an die Zimmerdecke. Genauso wie die letzten drei Tage. Mittlerweile kannte ich jeden Riss in der Tapete und wusste, dass die Lampe etwa alle zwanzig Minuten flackerte. Vermutlich sollte ich demnächst die Glühbirne wechseln. Aber nein, das ging ja nicht. Wenn mich irgendjemand dabei erwischte, wie ich auf eine Leiter oder auch nur einen Stuhl kletterte, würde ich endgültig in der Hölle landen. Vielleicht gehörte ich dort einfach hin, direkt in die Hölle.

Es klopfte an meiner Tür, leise und zurückhaltend. Das konnte nur meine Mutter sein, mein Vater nahm weniger Rücksicht. Ich bat sie nicht hinein, weil es mich nicht interessierte, was sie von mir wollte. Mein Frühstück hatte ich noch immer nicht angerührt, falls sie es nun also mit der nächsten Mahlzeit versuchen wollte, waren ihre Erfolgschancen höchst gering. Ich aß nur noch, wenn mein Magen vor Hunger zu schmerzen begann und auch erst, nachdem ich mich ein bisschen in diesem Schmerz gesuhlt hatte. Ich hörte wie sich die Tür öffnete. Wunderbar, jetzt nahm also auch meine Mutter keine Rücksicht mehr auf meine Privatsphäre.

„Bist du wach?", fragte sie mit dem selben mitleidigen Tonfall, den ich mir schon seit meinem Unfall vor zwei Monaten anhören durfte. Ich antwortete nicht. Meine geöffneten Augen sollten ihre Frage auch von allein beantworten. Meine Mutter ließ sich auf der Bettkante nieder und legte eine Hand auf mein rechtes Bein. Das gesunde Bein, mit dem ich jetzt nichts mehr anfangen konnte.

„Du hast noch nichts gegessen", stellte sie fest. Als ich noch immer keine Reaktion zeigte, seufzte sie. „Wir machen uns wirklich Sorgen, Theo. Du isst kaum etwas, du liegt nur hier oben rum, du sprichst nur das nötigste... wie lange soll das noch so weitergehen? Wir verstehen, dass du-"

„Gar nichts versteht ihr", fiel ich meiner Mutter schroff ins Wort. Es war schließlich nicht ihr Traum, der von einer Sekunde auf die andere zerplatzt war. Nicht ihr Leben, das auf einmal keinen Sinn mehr hatte.

„Dr. Adams hat in seiner Diagnose ausdrücklich erwähnt, dass deine Rückkehr auf's Eis nicht ausgeschlossen ist. Natürlich musst du dich erst vollständig auskurieren und der Heilung Zeit geben, aber wer weiß, vielleicht-"

„Lass mich bitte allein." Ich konnte es nicht mehr hören. Diese Lügen, die sie mir seit Wochen auftischten, allesamt. Ich konnte nicht mehr ertragen, wie sie mich in Watte packten, aus Angst, dass ich die Wahrheit nicht ertragen würde. Dabei wusste ich es doch längst. Meine Zukunft war ein einziger Scherbenhaufen.

Wenigstens diese Bitte wurde respektiert. Meine Mutter stand auf und verließ das Zimmer, jedoch nicht ohne vorher noch einmal auf den Teller mit dem unangerührten Essen zu deuten und in strengem Ton „Iss" zu sagen.

Das einzige Indiz dafür, dass Zeit verging, war die Sonne, die Stück für Stück am Himmel vor meinem Fenster entlang wanderte. Die letzten Tage hatte es nur geregnet, weshalb der blaue Himmel eine nette Abwechslung war. Und doch nicht genug Motivation, um dieses Bett zu verlassen. Ich hatte mich nie sonderlich viel für Astronomie interessiert. Ich wusste, dass die Erde sich einmal innerhalb von 24 Stunden um die Sonne bewegte, aber wie viel Zeit vergangen war, als es erneut an meiner Tür klopfte, dieses Mal deutlich energischer, vermochte ich nicht zu sagen. Wieder blieb ich stumm liegen und wieder öffnete sich die Tür trotzdem.

„Schickt sie jetzt dich hierher, weil sie selber nicht weiter weiß?", fragte ich, sobald ich die schweren Schritte meines Vaters erkannte. Er setzte sich nicht zu mir auf's Bett, sondern blieb daneben stehen.

„Es könnte nicht schaden, wenn du deine Mutter ein bisschen netter behandelst. Sie meint es nur gut." Da klang der Lehrer in ihm durch und normalerweise hätte ich über seinen Tonfall gelacht. Aber gelacht hatte ich schon lange nicht mehr. Ich wusste, dass meine Mutter es nur gut meinte, wie sollte sie es denn auch sonst meinen? Das änderte nichts daran, dass meine Situation beschissen war.

FALLEN FROM GRACEWo Geschichten leben. Entdecke jetzt