Kapitel 9

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Theo

Sieben Jahre zuvor

Ich wusste sofort, dass irgendetwas nicht stimmte.

Wir waren um drei Uhr verabredet gewesen und jetzt war es schon halb vier. Jacob war nicht immer pünktlich, aber Maja hatte mich noch nie warten lassen. Außerdem hatte Jacob inzwischen ein Handy, er konnte sich also jederzeit bei mir melden. Aber das Telefon klingelte nicht. Ich hatte es bereits bei ihnen zu Hause versucht, doch es war niemand rangegangen. Wenn die beiden in den nächsten zehn Minuten nicht hier auftauchten, würde ich rüberlaufen.

„Sind Jacob und Maja noch gar nicht da?", fragte meine Mutter, die in diesem Moment aus der Küche trat und mich auf dem unteren Treppenabsatz sitzen sah. „Ihr wolltet doch gemeinsam lernen." Ich schüttelte den Kopf und versuchte krampfhaft, mir das Grinsen zu verkneifen. Natürlich würden wir nicht lernen, das hatten wir bloß meiner Mutter erzählt. In Wahrheit kamen die beiden zu mir, damit wir auf der Playstation spielen konnten, die ich vor kurzem zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Umso weniger verstand ich, weshalb die beiden mich nun sitzen ließen.

„Ich lauf mal rüber und schau, was da los ist", sagte ich und sprang die letzten Treppenstufen hinab.

Jacob und Maja schienen sich noch nicht einmal auf den Weg gemacht zu haben, denn ich begegnete ihnen nicht. Der Pick-Up ihres Vaters stand vor dem Wohnhaus. Ich klingelte. Ein paar Minuten lang passierte gar nichts und ich war schon kurz davor zum Küchenfenster zu gehen, um nachzuschauen, ob jemand zuhause war, als ich hörte, wie sich Schritte der Tür näherten. Mein Herz begann schneller zu pochen. Ich war mir sicher, dass Maja unsere Verabredung nicht vergessen hatte, also musste etwas anderes dazwischen gekommen sein. Etwas unvorhergesehenes, möglicherweise etwas unschönes. Dieser Verdacht schien sich zu bestätigen, als ich Maja erblickte. Ihr Gesicht war kreidebleich, fast Ton in Ton mit ihren blonden Haaren.

„Was ist passiert?", fragte ich alarmiert, auf das schlimmste vorbereitet. War jemand verletzt? Krank? Weiter traute ich mich nicht zu denken.

Maja öffnete den Mund, doch es kam nichts heraus. Dann schluchzte sie plötzlich laut auf und Tränen strömten ihre Wangen hinunter. Im nächsten Moment war ich über die Türschwelle getreten und zog sie an mich. Maja und ich waren jahrelang fast gleich groß gewesen, doch seit kurzem überragte ich sie um etwa zehn Zentimeter. Sie vergrub ihr Gesicht an meinem Hals und weinte bitterlich. Ich wusste nicht was ich tun sollte, also hielt ich sie einfach im Arm.

Irgendwann hatte sie sich soweit beruhigt, dass sie einen Schritt zurücktreten konnte. Ich zog die Tür hinter mir zu. Im Haus schien absolute Stille zu herrschen, was mir seltsam vorkam. Eigentlich war hier immer irgendetwas los. Dieses Haus war immer voller Leben. Jetzt wirkte es leblos. Mit zunehmender Besorgnis runzelte ich die Stirn. „Was ist passiert?", wiederholte ich meine Frage. Anstatt mir zu antworten, griff Maja nach meiner Hand und zog mich zur Treppe. Oben in ihrem Zimmer schnappte sie sich ein Taschentuch, um ihre Tränen zu trocknen. Erst danach wandte sie sich wieder zu mir um.

„Sie ist weg. Einfach weg."

Die Besorgnis verringerte sich nicht, dafür gesellte sich nun Verwirrung hinzu. „Wer ist weg?", fragte ich vorsichtig. Ich wollte wissen wovon sie sprach, aber ich wollte sie nicht wieder zum Weinen bringen.

„Mamma."

Die Mutter von Jacob und Maja war Schwedin, weshalb die beiden sie immer ‚Mamma' nannten. Schlauer wurde ich aus dieser Antwort dennoch nicht. „Wieso ist deine Mutter weg? Wo ist sie hin?" Wieder sammelte sich Tränen in Majas Augen. Es dauerte weitere zehn Minuten, bis ich erfuhr, was an diesem Vormittag geschehen war. Majas Mutter hatte ihre Familie verlassen. Ohne Vorwarnung hatte sie verkündet, zurück in ihre Heimat zu ziehen. Sofort. Sie hatte ihr Leben, ihren Mann und ihre Kinder zurückgelassen, von einen Moment auf den anderen.

FALLEN FROM GRACEWo Geschichten leben. Entdecke jetzt