Kapitel 36

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Maja

„Vermutlich sollte ich mich so langsam wieder bei meinen Eltern blicken lassen. Ich war jetzt 24 Stunden lang nicht zuhause und es ist mit Sicherheit nur noch eine Frage von Minuten, bis sie einen Suchtrupp losschicken."

„Hast du dich, seit wir gestern Morgen bei dir los sind, nicht mehr bei ihnen gemeldet?", fragte ich ungläubig.

„Wenn das der Fall wäre, hätte der Suchtrupp schon die ganze Stadt durchkämmt", entgegnete Theo und verdrehte die Augen. „Sie wissen, dass ich hier bin. Trotzdem werden sie sich Sorgen machen." Er stand auf und griff nach seiner Kleidung, die er gestern auf dem Boden meines Zimmers verteilt hatte.

Ein bisschen überraschte es mich, wie wenig in der Nacht zwischen Theo und mir passiert war. Es beruhigte mich auch, denn für mehr wäre ich nicht bereit gewesen. Dennoch fragte ich mich, was genau Theo zu der Entscheidung getrieben hatte, bei mir zu schlafen und mich dann nicht anzurühren. Ja, wir waren uns näher gekommen, aber nicht so nah, wie ein beängstigend großer Teil von mir es sich wünschte.

„Soll ich dich fahren?", bot ich ihm an, während er seine Knie-Orthese anlegte. Würde er sich wirklich untersuchen lassen? Oder hatte er seine Meinung in den letzten Stunden wieder geändert?

Mit grimmiger Miene starrte er auf sein Knie. „Ich kann laufen, Maja."

„Das habe ich nie bezweifelt", sagte ich, betont ruhig. „Ich dachte nur, dass du möglichst schnell zuhause sein möchtest, wegen des Suchtrupps."

Theo hob den Kopf und sein Gesichtsausdruck, der Schmerz in seinen Augen, brach mir beinahe das Herz. „Krüppel, sag ich doch."

„Du bist kein Krüppel. Niemand würde die Strecke zu Fuß schneller schaffen als mit dem Auto. Du musst dich aber entscheiden, denn falls ich dich fahren soll, muss ich mir etwas anziehen."

„Du hast doch etwas an." Auf Theos Gesicht erschien die Spur eines Lächelns, während er mich musterte. Ich versuchte, mich nicht allzu geschmeichelt zu fühlen. „Musst du nicht die Kühe melken?"

Ich zuckte mit den Schultern. „Doch, aber dich nach Hause zu fahren dauert wenn es hoch kommt zehn Minuten. Das wäre kein Problem."

Erst legte Theo den Kopf schief, dann seufzte er. Und schließlich folgte ein Kopfschütteln. „Ich glaube, ein bisschen Bewegung an der frischen Luft wird mir gut tun."

Wenige Minuten später war ich alleine und das fühlte sich um einiges seltsamer an, als ich erwartet hatte. Mehr als 36 Stunden hatten Theo und ich miteinander verbracht, zwei Nächte nebeneinander geschlafen und jetzt fühlte sich seine Abwesenheit an, wie ein Loch in meinem Herzen. Das war nicht gut. So durfte ich mich nicht fühlen, das war viel zu gefährlich. Vielleicht war es besser, wenn ich mich jetzt erst einmal für eine Weile von Theo fern hielt.

Als ich nach unten in die Küche kam, entdeckte ich einen Zettel auf dem Tisch. Die Handschrift meines Vaters erkannte ich sofort. In seiner Nachricht bedankte er sich für die gründliche Reinigung des Hühnerstalls und teilte mir mit, dass er die heutige Arbeit alleine schaffen würde. Damit begann mein Wochenende einige Stunden früher als gedacht. Ich holte mein Handy hervor und fragte Josie, Sienna und Nolan in unserem Gruppenchat, ob jemand von ihnen heute Vormittag Zeit hatte. Möglicherweise mussten sie alle Kurse an der Uni besuchen, aber vielleicht hatte ich auch Glück.

Tatsächlich meldete sich Nol bereits nach kurzer Zeit zurück und schlug ein Treffen in einer Stunde im Diner vor. Ohne lange zu überlegen, stimmte ich zu. Ich musste dringend mit jemandem reden, der nicht Theo war und der nichts von der Sache mit meiner Mutter wusste. Ich brauchte ein Stück Normalität.

FALLEN FROM GRACEWo Geschichten leben. Entdecke jetzt