Kapitel 52

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Theo

Ich musste nicht aus dem winzigen Fenster sehen, um zu wissen, dass wir den sicheren Boden verlassen hatten und uns Meter für Meter weiter nach oben bewegten. Es gab wenige Dinge, die ich mehr verabscheute, als für mehrere Stunden in diesen Blechbüchsen eingesperrt zu sein und mein Leben komplett in die Hände einer wildfremden Person zu legen.

Ja, im Vergleich zu Autos und anderen Verkehrsmitteln waren Flugzeuge wohl einigermaßen sicher, die Info war nichts neues für mich. Dennoch stürzten Flugzeuge ab, mussten notlanden, wurden entführt oder verschwanden einfach spurlos vom Radar. Diese Dinge passierten und niemand konnte mir garantieren, dass nichts dergleichen passieren würde, während ich in einer solchen Höllenmaschine saß.

Nicht nur unsere Fans waren der Grund gewesen, weshalb ich Heimspiele immer um einiges lieber gemocht hatte, als Auswärtsspiele. Manche Universitäten, gegen deren Mannschaften wir spielten, hatten wir mit dem Bus erreichen können, das war auch noch in Ordnung gewesen, obwohl die meisten anderen die langen Fahrten gehasst hatten. Aber mir war alles lieber, als zu fliegen. Auf den Rückflügen hatte mich wenigstens die gute Stimmung nach unseren Siegen meist ganz gut abgelenkt.

Meine Hände waren schweißnass, was mir für Maja etwas leid tat, doch sie war selber Schuld, denn sie hatte nach meiner Hand gegriffen. Wenn wir abstürzten, dann wenigstens zusammen. War das ein Trost? Nein, nicht wirklich. Je mehr ich darüber nachdachte, desto schlimmer wurde die Vorstellung. Ich schloss die Augen und konzentrierte mich auf meinen Atem, um in dieser Situation nicht auch noch eine weitere Panikattacke zu riskieren.

Ich wusste nicht, wie viel Zeit ich schon überstanden hatte, als Maja meine Hand losließ. Vielleicht hatten wir unsere gewünschte Flughöhe erreicht und sie dachte, dass es für mich nun leichter werden würde. Da täuschte sie sich. Es würde erst leichter werden, wenn wir wieder sicher gelandet waren.

„Hier", drang ihr Stimme an meine Ohren und ich sah mich gezwungen, meine Augen zu öffnen. Maja hielt mir ihre Kopfhörer vor mein Gesicht, wie eine stumme Aufforderung. Als ich sie nur irritiert ansah, verdrehte sie die Augen und sagte: „Aufsetzen, los." Ihr Ton ließ mich wissen, dass Widerspruch zwecklos war, weshalb ich gehorchte und mir die Kopfhörer aufsetzte. Sofort wurde die Geräuschunterdrückung aktiviert und ich musste das laute Dröhnen des Flugzeuges nicht mehr ertragen. Wenige Sekunden später erklangen die ersten Töne Klaviermusik. Überrascht sah ich zu Maja, die nur verhalten lächelte und sich wieder dem Fenster zuwandte. Ich hatte nicht einmal gewusst, dass sie klassische Musik mochte. Andererseits... wirklich klassisch klang die Musik an meinen Ohren nicht, es war eher ein modernes Stück, soweit ich das beurteilen konnte. Modern, gefühlvoll und schön. Ich lehnte mich in meinem Sitz zurück und schloss meine Augen ein weiteres Mal. Mein Unwohlsein löste sich nicht in Luft auf, aber ich konnte förmlich spüren, wie ich mich von Minute zu Minute mehr entspannte, und ich schaffte es beinahe, die Tatsache, dass ich mich gerade mehrere tausend Meter über dem Erdboden befand, auszublenden. Doch immer wenn es zwischendurch bedrohlich wackelte, zuckte ich zusammen und wurde an die Realität erinnert.

Irgendwann traute ich mich, meine Augen wieder zu öffnen. Maja schaute noch immer aus dem Fenster - ein bisschen selbstzerstörerisch, aber jeder wie er mochte. Sie wirkte überhaupt nicht unruhig, im Gegenteil. Ich beugte mich ein Stück nach vorne, um ihr Gesicht sehen zu können. Sie lächelte. Es war ein seliges Lächeln, als sei sie gerade im Himmel. Hm, ja gut, war sie auch, buchstäblich. Wie konnte sie es derart genießen, ihr Leben komplett dem Schicksal, fragwürdiger Physik und einem Piloten, den sie definitiv nicht kannte, zu überlassen? Das war doch nicht normal.

Sie musste gemerkt haben, dass ich sie beobachtete, denn sie drehte ihren Kopf in meine Richtung. Sie bewegte ihren Mund, doch ich vernahm keinen einzigen Laut, nur wunderschöne Klaviermusik. Etwas widerstrebend setzte ich die Kopfhörer ab - meine Fresse war es laut hier - und fragte: „Wie bitte?"

FALLEN FROM GRACEWo Geschichten leben. Entdecke jetzt