Kapitel 65

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Theo

Wir hatten unsere Koffer ins Auto geladen, Maja hatte mir mitgeteilt, um wie viel Uhr sie mich hier wieder abholen würde, und dann war sie davon gefahren. Wohin, das wusste ich nicht. Vielleicht wusste sie selbst das nicht einmal. Aber sie wusste, dass sie die letzten Stunden, die uns vor unserer Abreise noch blieben, nicht mit mir verbringen wollte, und das konnte ich ihr nicht verübeln. Natürlich hatte ich mit so etwas gerechnet. Mit Wut, mit Kälte, mit Vorwürfen. Dennoch fühlte es sich einfach nur beschissen an. Doch das war nichts im Vergleich dazu, wie es sich für Maja anfühlen musste. Die ganze Situation war für sie schon schwer genug. Sie hatte sich mir anvertraut, mir und sonst niemandem, und ich hatte sie hintergangen. Meine Motivation war dabei völlig irrelevant. Ich war ein riesiger Vollidiot und konnte mich glücklich schätzen, wenn sie jemals wieder ein Wort mit mir wechselte.

Die nächsten Stunden verbrachte ich in einem Café in der Nähe des Hotels. Obwohl der Schmerz in meinem Knie seit dem Vorfall am Samstagabend kein weiteres Mal explodiert war, wollte ich keine weiten Strecken laufen und damit riskieren, es nicht rechtzeitig zum Hotel zurück zu schaffen und Maja noch mehr zu verärgern.

Ich nutzte die Zeit, um mir so viel Klaviermusik herunterzuladen, wie ich finden konnte, denn ich bezweifelte, dass Maja mir heute wieder so selbstlos ihre Musik zur Verfügung stellen würde, wie auf dem Hinflug.

Maja wartete bereits auf mich, als ich zum Hotel zurückkehrte, obwohl ich fünfzehn Minuten vor der vereinbarten Zeit dort eintraf. Ich stieg zu ihr ins Auto und stellte mich darauf ein, dass sie sofort losfahren würde. Nachdem ich einmal in Gedanken bis fünfzig gezählt hatte, war der Motor noch immer stumm, weshalb ich nun doch zu ihr herüber schaute. Ihr Blick war nach vorne gerichtet, aber mir entging die Rötung ihrer Augen ebenso wenig wie die getrockneten Tränenspuren auf ihren Wangen.

„Maja", murmelte ich und griff instinktiv nach ihrer Hand, während mein Gedankenkarussell sich in Bewegung setzte. War sie bei ihrer Mutter gewesen? Hatte sie mir ihr gesprochen? Hatte sie Matilda getroffen? All das wollte ich sie fragen und wusste gleichzeitig, dass ich kein Recht auf eine Antwort hatte. Diese Meinung schien Maja zu teilen, denn sie entzog mir ihre Hand sofort wieder, legte sie ans Lenkrad und startete nun doch den Motor. „Ich weiß, dass du das mit Sicherheit nicht hören möchtest", sagte ich nach einer Weile, „aber solltest du reden wollen, bin ich da. Jederzeit."

Von einem winzigen Zucken im Gesicht abgesehen, zeigte Maja keinerlei Reaktion, also ließ ich sie für den Rest der Fahrt in Ruhe. Am Flughafen gaben wir den Mietwagen ab, passierten die Sicherheitskontrolle und fanden den Weg zu unserem Gate, ohne ein einziges Wort zu wechseln. Stille mit Maja war noch nie unangenehm gewesen, aber diese Art der Stille hasste ich abgrundtief.

Viel zu schnell wurde unser Flug zum Boarding geöffnet und die Enge in meiner Brust wurde fast unerträglich, während ich die viel zu enge Blechbüchse betrat, Maja direkt hinter mir. Sobald wir unsere Plätze eingenommen hatten, setzte Maja sich ihre Kopfhörer auf und signalisierte mir damit ganz klar, dass sie keine Unterhaltung oder sonstige Interaktion wünschte. Während wir uns der Startbahn näherten, nutzte ich die letzten Minuten, bevor ich den Flugmodus aktivieren musste, um Nate zu schreiben und ihn zu bitten, mich später vom Flughafen abzuholen. Ich konnte nicht einschätzen, ob Maja mich tatsächlich dort zurücklassen würde, weshalb mir diese Alternative sicherer erschien.

Als das Flugzeug beschleunigte und kurz danach vom Boden abhob, krallte ich mich an den Armlehnen fest, schloss die Augen und konzentrierte mich auf meinen Atem und die Musik in meinen Ohren. Die fünf Stunden über den Wolken vergingen quälend langsam, Maja ignorierte mich mit bewundernswerter Ausdauer und die Turbulenzen waren stärker als auf dem Hinflug. Pünktlich zum Landeanflug gaben meine Kopfhörer den Geist auf. Mir entwich ein leicht verzweifeltes Stöhnen, als ich sie absetzte und zurück in meine Tasche stopfte. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Maja den Kopf in meine Richtung drehte. Zum ersten Mal seit Stunden schaute sie mich an. Ich widerstand dem Drang, ihren Blick zu erwidern. Das Flugzeug sackte ein Stück ab und ich sog scharf die Luft ein. Etwas kühles berührte meine Hand. Majas Finger schlossen sich um meine eigenen. Ein sanfter Druck, der augenblicklich dafür sorgte, dass das Engegefühl auf meiner Brust etwas nachließ. Überrascht sah ich zu ihr hinüber, doch ihr Blick war schon wieder aus dem Fenster gerichtet. Dank Majas Berührung glich die Landung nur einem mäßig schlimmen Albtraum. Sobald das Flugzeug mit allen Reifen wieder den Boden berührte, ließ Maja meine Hand los und setzte ihre eigenen Kopfhörer ab.

FALLEN FROM GRACEWo Geschichten leben. Entdecke jetzt