Kapitel 10

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Maja

„Er ist glaube ich total verloren", teilte ich mein Urteil Josie mit, als wir am Donnerstagabend telefonierten. „Er hat sich zu einhundert Prozent darauf verlassen, als Eishockey-Spieler Karriere zu machen und jetzt hat er keinen Plan B."

„Kann gut sein... Hast du ihn eigentlich mal spielen sehen? Also seit dem Abschluss? Manche der College-Spiele werden ja im Fernsehen oder im Internet übertragen."

„Ganz am Anfang der Saison habe ich mal ein Spiel gesehen, ja. Danach nicht mehr." Ich war neugierig gewesen. Ich wusste schließlich wie gut Theo spielte. Ihn vor so viel Publikum spielen zu sehen, war beeindruckend gewesen. Er hatte keiner Utopie hinterher gejagt, indem er sich eine erfolgreiche Karriere auf dem Eis erhoffte.

„Du könntest ihn fragen, ob er morgen mitkommen möchte", schlug Josie vor und brachte mir damit kurz durcheinander. Irritiert fragte ich: „Was soll ich machen?"

„Theo fragen, ob er sich morgen mit uns treffen möchte."

Ich musste lachen, ich konnte nicht anders. „Vergiss es." Ich wusste nicht, wie Josie auf diese absurde Idee kam.

„Warum denn nicht?", fragte sie und klang dabei todernst. „Du hast selber gesagt, dass die Situation für ihn nicht einfach ist. Vielleicht würde es ihn auf andere Gedanken bringen."

In sich klang diese Begründung durchaus schlüssig. Aber es ging um Theo. „Hast du die letzten drei Jahre vergessen?", fragte ich Josie. „Wir sind keine Freunde mehr. Ich bezweifle sehr stark, dass Theo Zeit mit uns verbringen möchte." Ich hatte ihn seit Montagnachmittag nicht mehr gesehen. Weder zufällig in der Stadt, noch auf dem Hof. Meine Hoffnung, irgendwie zu ihm durchdringen zu können, war ebenso schnell wieder verschwunden, wie sie nach unserem Gespräch erwacht war.

„Fragen kostet nichts", argumentierte Josie.

„Ich werde nicht zu ihm nach Hause laufen, klingeln und ihn fragen, ob er sich mit uns treffen möchte. Vergiss es, Josie. Mit seiner miesen Laune ruiniert er vermutlich sowieso nur den Abend." Schon während ich die Worte sprach, verursachten sie mir ein schlechtes Gewissen. Aber es stimmte. Theo war aktuell unberechenbar.

Josie seufzte. „Na gut, dann eben nicht."

Theo

Meine zweite Physio-Einheit am Freitag verlief nicht viel besser als am Montag. Wieder holte meine Mutter mich ab und wieder erzählte ich ihr nichts von meinem ausbleibenden Fortschritt. Sie hätte ohnehin nur behauptet, dass ich geduldiger sein musste. Aber Zeit war mein Gegner, mein Feind.

„Nate und Leslie kommen heute zum Abendessen", verkündete meine Mutter, als wir aus dem Auto stiegen. Meine Laune verschlechterte sich augenblicklich noch mehr, falls das überhaupt möglich war. Zwei Menschen mehr, die mit mir reden wollen würden. Wunderbar. „Ich geh spazieren", sagte ich und drehte mich zur Straße um.

„Theo!", rief meine Mutter mir hinterher, doch ich beachtete sie nicht. Ich wusste, dass es eine dumme Idee war, mein Knie direkt nach der Physio so stark zu belasten, das hatte ich am Montag gemerkt. Aber vielleicht war es gar nicht mal so schlimm, wenn ich unterwegs stürzte und nicht wieder auf die Beine kam. Dann verpasste ich wenigstens das Abendessen.

Ich kämpfte mich durch den Schmerz, setzte einen Fuß vor den anderen, ohne wirklich darauf zu achten, wohin ich eigentlich lief. Erst als ich vor der leeren Weide stand, wurde mir bewusst, dass ich den Weg zum Hof gerade ohne eine einzige Pause zurückgelegt hatte. Der Schmerz brannte, keine Frage. Aber ich hatte keine Pause gemacht. Keine verdammte Pause. Doch jetzt merkte ich, dass ich mein gesamtes Gewicht auf das rechte Bein verlagern musste, um nicht zu stürzen. Mit letzter Kraft humpelte ich zum Stall und ließ mich dort auf einen Heuballen fallen. Ich streckte mein linkes Bein aus, um das Knie so gut wie möglich zu entlasten.

FALLEN FROM GRACEWo Geschichten leben. Entdecke jetzt