Maja
Ich sah die Zerrissenheit, die Theo quälte und ich konnte ihn sehr gut verstehen. Nicht zuletzt, weil ich ihm erst gestern von meiner eigenen Sorge, verletzt zu werden, erzählt und ihn gebeten hatte, es bei bloßer Freundschaft zwischen uns zu belassen. Doch die letzten 24 Stunden hatten wirklich alles geändert. Ich wollte mehr als Freundschaft, ich wollte sehen, wo dieser Weg hinführte, ich wollte... Theo. Ich wollte ihn endlich küssen, weil ich wissen wollte, wie seine Lippen sich auf meinen anfühlten. Ich wusste, dass ich damit ein Risiko einging. Gestern Abend war ich durch sein Fenster gestiegen und hatte ihm vorgeschlagen, dass wir miteinander schliefen. Wenn ich ihn jetzt küsste, spät abends, direkt neben seinem Bett, sendete ich damit vermutlich ziemlich eindeutige Signale aus. Signale, die ich nicht unbedingt aussenden wollte. Erst nach meiner Rückkehr in mein eigenes Zimmer, hatte ich in der letzten Nacht realisiert, wie bescheuert meine Idee gewesen war. Ich konnte nur von Glück reden, dass Theo mich weggeschickt hatte. Aber heute... heute würde er mich mit großer Wahrscheinlichkeit nicht wegschicken. War ich wirklich bereit, diesen Schritt zu gehen? Ja, ich mochte Theo, ja, ich vertraute ihm. Dennoch...
„Ich bin nicht hier, um mit dir zu schlafen", platzte es aus mir hinaus. Vor Schreck schlug ich mir die eigene Hand vor den Mund. Wo war das denn jetzt hergekommen?
Theo sah mich mit geweiteten Augen an, offensichtlich zu perplex, um sofort etwas zu erwidern. „Ich dachte nur...", stammelte ich, verzweifelt versucht, die Situation wieder unter Kontrolle zu bekommen. „Ich dachte nur, dass ich das vielleicht klarstellen sollte. Weil ich gestern durch dein Fenster geklettert bin, um dir genau das anzubieten." Theos Augen wurden nicht kleiner, also redete ich einfach weiter: „Also wenn du das gerne möchtest, können wir... ich meine, grundsätzlich bin ich nicht abgeneigt, ich wollte nur sagen, dass es nicht meine Absicht war, dich zu verführen oder so, nachdem du gestern..." Ich verstummte, weil ich merkte, dass ich alles mit jedem Wort nur noch schlimmer machte. Aus lauter Verzweiflung ließ ich mich einfach auf den Boden sinken, wo ich mein Gesicht in den Händen vergrub. „Tut mir leid", murmelte ich. „Das war eigentlich ein wirklich schöner Moment. Du hast mir anvertraut, wie du dich fühlst und ich hab gesagt, dass ich für dich da bin, und... naja, du warst dabei. Und dann fang ich an, so einen Mist zu reden. Ich weiß echt nicht, was in mich gefahren ist."
Theo schwieg noch immer. Vorsichtig lugte ich zwischen meinen Fingern hindurch und sah zu ihm nach oben. Seine Miene war unergründlich. „Kannst du vielleicht auch mal was sagen?", bat ich ihn. „Wenn nicht, ist auch okay, dann versinke ich einfach hier und jetzt im Erdboden. Auf Nimmerwiedersehen." Gott, ich musste dringend aufhören zu reden.
„Kannst du vielleicht wieder aufstehen?" Endlich, eine Wortmeldung. Aber der leicht genervte Unterton ließ mein Schamgefühl ins Unermessliche steigen. „Ich würde ja zu dir runterkommen, aber davon wäre mein Knie wenig begeistert."
„Warum?", fragte ich und zögerte. Denn gerade war ich ganz froh, über den Abstand zwischen uns. Hier unten war es um einiges leichter, seinem Blick auszuweichen.
„Warum?", wiederholte Theo meine Frage, nun definitiv genervt. Gleichzeitig löste er meine Hände von meinem Gesicht und zog mich mit erstaunlicher Kraft wieder auf die Beine. Wobei ich mir auch nicht wirklich Mühe gab, Widerstand zu leisten.
„Ja, warum", murmelte ich, nun wieder annähernd auf Augenhöhe mit ihm.
Theo blickte mich finster an und ich stellte mich auf das Schlimmste ein. Was auch immer das sein sollte. „Damit ich endlich das hier machen kann", sagte er, nahm mein Gesicht in seine Hände und küsste mich mit einer Leidenschaft, die mir beinahe den Boden unter den Füßen wegriss.
Das hier war nicht mein erster Kuss. Und doch fühlte es sich genau so an. Vielleicht lag es daran, dass mich noch nie jemand auf die Weise geküsst hatte, wie Theo mich küsste. Seine Lippen waren seidig weich und gleichzeitig bewegten sie sich forsch und fordernd auf meinen. Dieser Forderung kam ich nach, indem ich mich endlich aus meiner Schockstarre löste und seinen Kuss erwiderte. Ich spürte, wie seine Lippen sich zu einem Lächeln verzogen und ich ließ mich fallen. Ließ mich fallen in diesen Kuss, in Theo.

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FALLEN FROM GRACE
RomanceEr hatte einen Plan. Einen Traum. Eine Zukunft. Jetzt steht er vor den Trümmern - und ihr. Theo war immer der, der wusste, wohin er wollte: Eishockey, Leistung, Erfolg. Für alles andere - sogar für Maja, seine einst beste Freundin - blieb irgendwann...