Kapitel 50

356 25 14
                                    

Theo

Alles, was Dr. Lenn danach noch sagte, nahm ich nicht mehr wahr. Jegliche Informationen oder Ratschläge gingen einfach an mir vorbei. Erst als er schließlich aufstand, wurde ich aus meiner Trance gerissen und zurück in die Realität katapultiert.

„Lassen Sie das alles erst einmal sacken, Theo", riet er mir, während er um den Tisch herum kam. „Denken Sie darüber nach, reden Sie mit Ihrer Familie. Wenn Sie eine Entscheidung getroffen haben, melden Sie sich gerne bei mir." Mit meiner Familie würde ich bestimmt nicht darüber reden. Die einzige Person, deren Meinung mir etwas wert war, saß eine Tür entfernt im Wartezimmer. Doch dies war eine Entscheidung, die ich alleine treffen musste.

Dr. Lenn hielt mir die Tür auf und ich trat hindurch, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Ich konnte sein freundliches Lächeln und das Mitleid, das ich zweifellos in seinen Augen finden würde, gerade nicht ertragen. Sobald ich wieder im Wartezimmer stand, erhob Maja sich und kam mit schnellen Schritten auf mich zu. Auch ihr konnte ich nicht in die Augen schauen und als sie nach meiner Hand griff, durchfuhr mich eine seltsame Kälte.

„Alles okay?", fragte sie, doch die Sorge in ihrer Stimme ließ keinen Zweifel daran, dass sie mir genau ansah, dass nichts okay war. Ich deutete ein Kopfschütteln an, bevor ich mich an ihr vorbeischob, die Tür der Praxis ansteuerte und sie einfach hinter mir stehen ließ. Ich wusste, dass das nicht in Ordnung war und irgendwo, tief in mir drinnen, regte sich das schlechte Gewissen, aber das blendete ich gekonnt aus. Erst auf dem Parkplatz, als ich schon fast ihren Wagen erreicht hatte, holte Maja mich ein und stellte sich demonstrativ zwischen die Beifahrertür und mich.

„Nein, Theo", sagte sie bestimmt. „So nicht."

Widerstrebend sah ich sie an und versuchte dabei so wenig Emotionen in meinen Blick zu legen wie möglich. Sie sollte mir nicht ansehen, mit welcher Aggressivität die Wut mich von innen zerfraß. Wut und Verzweiflung. Aber vor allem Wut.

„Kannst du mich einfach nach Hause fahren? Bitte?"

„Nein." Maja schüttelte den Kopf und in diesem Moment verfluchte ich ihre Sturheit, für die ich sie in anderen Situationen schon bewundert hatte. „Du hast mich gebeten, dich zu begleiten, weil du jemanden an deiner Seite haben wolltest. Rede mit mir. Was ist da drinnen passiert? Was hast du erfahren?"

Ich schaute sie an, während das Feuer in mir brannte, und wusste, dass ich es nicht konnte. Ich konnte ihr das nicht antun. Sie war zu gut, zu wertvoll. Niemand konnte das Feuer in mir löschen. Entweder gelang es mir selbst, oder ich ging daran zugrunde. Eine andere Option gab es nicht.

„Ich hätte dich nicht küssen dürfen", sagte ich das erste, was mir in den Sinn kam. Alles, um sie von mir fernzuhalten. Die ganze letzte Woche, jeder Schritt, den Maja und ich aufeinander zugemacht hatten, hatte mich an eine glückliche Zukunft glauben lassen. Doch jetzt wurde all das überschattet von der Entscheidung, die auf meinen Schultern lastete.

Der Traum, den ich für geplatzt gehalten hatte, war auf einmal wieder viel zu präsent in meinem Kopf. Es war möglich. Noch ein paar Wochen Physio, eine gewisse Dosis Schmerzmittel und ich würde wieder auf's Eis können. Es barg Risiken, ja, aber hatte ich nicht schon genug Pech gehabt? War überhaupt noch Pech für mich übrig? Gleichzeitig tobte diese Wut in mir. Wut auf Blake und das ganze Trainerteam. Ich verstand, warum sie so entschieden hatten, hätte genauso entschieden. Ich wollte so schnell wie möglich zurück auf's Eis und sie wollten, dass ich so schnell wie möglich wieder Tore für sie schoss. Es war die Lüge, der Vertrauensbruch, der mich so wütend machte. Wieso war niemand ehrlich zu mir? Wieso schien mir niemand zuzutrauen, mit der Wahrheit umzugehen?

Natürlich war mir klar, wie unvernünftig die Entscheidung, mich nicht operieren zu lassen, wäre. Aber sechs Monate. Sechs verdammte Monate. Damit war die Sache gelaufen. Endgültig. Wie konnte ich das jetzt, wo ich die Alternative kannte, überhaupt in Betracht ziehen?

FALLEN FROM GRACEWo Geschichten leben. Entdecke jetzt