Kapitel 38

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 Gegen halb zehn Uhr Abends beschloss Lucas, sein „Verlies", auch Aktenkeller genannt, zu verlassen und nach Hause zu gehen.
Eigentlich hätte er bereits vor drei Stunden Feierabend gehabt, aber er wollte die Arztpraxis nicht ohne Meike verlassen.

Diese hatte in den vergangenen Tagen nicht ein einziges Mal pünktlich Schluss machen können, jedes Mal war ihrem Chef noch im letzten Moment etwas eingefallen, das sie dringend erledigen musste.
Lucas hatte jeden Tag mit ihr Überstunden gemacht und dies hatte ihm bereits ein ungehaltenes „Glauben Sie nicht, dass ich für Ihre Langsamkeit bezahle! Wenn Sie da unten nicht früher fertig werden, ist das nicht mein Problem!", eingebracht.

Aber dies war Lucas herzlich gleichgültig. Mit der an ihn gestellten Aufgabe, dem Vernichten alter Akten, war er beinahe fertig und den Rest würde er an seinem morgigen, letzten Arbeitstag auch noch schaffen.

Aber konnte er Meike, die sich in den letzten Tagen nach Feierabend mehr als einmal die Tränen aus den Augen gewischt hatte in diesem Gruselkabinet von Arztpraxis allein lassen?

„Der Mann macht einem mehr Angst als sämtliche Dämonen, mit denen ich es bisher zu tun hatte! Der toppt fast noch Engelmann! Ich glaube, vor dem hätte sogar Stefan Angst," dachte Lucas, als sich die Tür zum Aktenraum öffnete und Tamara herein schlüpfte.
„Der Alte macht jetzt Feierabend! Ich soll dich nach Hause schicken und dann abschließen! Vorher soll ich aber noch sämtliche Tagespost in die Patientenakten einsortieren! Das kann noch eine halbe Stunde oder so dauern! Aber du kannst ja jetzt mit hochkommen und musst nicht mehr hier im Kerker auf mich warten!"

Sie seufzte. „Aber jetzt muss ich schnell nach oben. Ich fange schon mal mit dem Einsortieren an. Ich muss auch noch das Zimmer von Doktor Frankenstein putzen, obwohl das eigentlich immer richtig steril aussieht. Aber der sieht jeden Fussel, den ich übersehe."

Lucas legte die letzten zehn Akten, die er am nächsten und letzten Arbeitstag noch in den Schredder stopfen wollte, auf einen Stapel und verließ den Raum. Aber bevor er das Kellergeschoss verließ rüttelte er noch einmal an der Türklinke des unheimlichen anderen Raumes. Wie immer war die Tür verschlossen und es klang kein Geräusch nach draußen.
„Also wahrscheinlich einfach nur ein Raum mit privaten, absolut undämonischen Unterlagen!", dachte er mit einem Grinsen. „Obwohl ich mir bei dem Arzt schon vorstellen könnte, dass er da unten aus Leichenteilen neue Menschen oder Dämonen bastelt, die ihm helfen sollen, die Weltherrschaft zu erringen."

Aber irgendwie war die Vorstellung auch lachhaft. Trotzdem konnte er sich seinen Ferienjobchef sehr gut in einer mittelalterlichen Fantasywelt vorstellen, wie er auf einem Thron saß und auf irgendwelche unglückliche Gefangene oder tollpatschige Diener deutete und laut „Kopf ab!", brüllte, während er einen Totenschädel anstelle eines Zepters in der Hand hielt. Weiterhin dachte Lucas bei sich, dass es doch sehr erleichternd war, dass diese Art von Bösewicht in den meisten Geschichten und Filmen früher oder später von irgendeinem Helden, der dann meist auch noch die Prinzessin heiraten durfte, besiegt wurden.

„Lucas, der tapfere Held besiegt den brüllenden Dunklen Herrscher der Unterwelt und befreit Prinzessin Meike. Die Geschichte hätte doch was," dachte er belustigt, als er kurz darauf das Arztzimmer betrat, in dem Meike gerade den Tisch abwischte.

„Ich bin gleich fertig, dann können wir gehen!",sagte sie. „Aber wir müssen noch überall das Licht ausmachen, sonst bekommen wir morgen früh einen Vortrag über Stromverschwendung zu hören und der zieht mir das am Ende noch vom Gehalt ab."

„Dann haben wir jetzt also die ganze Praxis für uns?", erkundigte sich Lucas, während er sich auf die Untersuchungsliege setzte.

Meike sah ihn erschrocken an. „Setz dich da besser nicht drauf, sonst hinterlässt du am Ende noch Hinternabdrücke und ich bekomme einen Anschiss!"

„Oh, natürlich....," sagte Lucas und stand auf, während sein Blick auf den neben der Tür stehenden Kleiderständer fiel. An diesem hingen zwei Arztkittel.

Lucas griff nach einem der Kittel und zog ihn an, während Meike zu kichern begann. „Oh je, was willst du denn damit? Willst du, dass wir jetzt Doktor spielen oder was?"
„Warum nicht?", fragte Lucas grinsend und griff nach einem auf dem Schreibtisch liegenden Stethoskop. „Machen Sie sich doch mal bitte frei...."

„Du bist verrückt!", kicherte Meike, wurde dann aber wieder ernst. „Leg das besser wieder hin. Das Ding ist teuer und wenn das kaputt geht bringt der Chef uns um."

Lucas erfüllte Meikes Wunsch, während er ihr einen gespielt besorgten Blick zuwarf. „Sie sollten sich nicht so aufregen! Das ist nicht gesund! Ich habe einen Doktorkollegen, der sich auch andauernd aufregt und auf Dauer wird das nicht gutgehen!"


Meike lachte laut los. „Der Chef....nicht gutgehen...."

Lucas wollte etwas sagen, brachte vor Lachen aber kein Wort heraus, während Meike die Tür zum Untersuchungsraum schloss.
„Damit uns vom Hausflur aus niemand hört...wer weiß schon, ob unser Monsterdoktor nicht hier herumschleicht und die böse Auszubildende und den Aktenvernichter kontrolliert....sag mal, Aktenvernichter...klingt doch gut..."

„Ja," antwortete Lucas. „Fast so wie Terminator oder so...."

Aber dann wurde Meike ernst oder sie versuchte es zumindest. „Lucas, lass uns hier fertig aufräumen und dann nach Hause gehen. Ich hab Angst, dass wir hier beim Blödsinn machen erwischt werden. Stell dir mal vor, du kleckerst den Kittel voll. Wie sollen wir das erklären?"

Lucas zog den Arztkittel aus und hängte ihn wieder an den Kleiderständer. Er wollte nicht, dass Meike am Ende seinetwegen ihren Ausbildungsplatz verlor. Aber als er den Kittel gerade aufgehängt hatte umarmte Meike ihn von hinten.
„Danke....und jetzt will ich noch einen Kuss haben, so als Motivation für das Saubermachen! Übrigens, der Kittel hat dir gut gestanden. Vielleicht solltest du ja Arzt werden. Dr. Lucas Frinken! Und dann stellst du mich ein und gibst mir al erstes eine dicke Gehaltserhöhung! Und jetzt will ich meinen Kuss haben."

Er gab ihr den gewünschten Kuss....

Der Aufenthalt in der Arztpraxis endete damit, dass Lucas später, als er einen Blick auf die Wanduhr warf, feststellte, dass es bereits halb Ein Uhr in der Nacht war. Er und Meike lagen, eng aneinandergeschmiegt, auf dem dicken Teppichboden des Untersuchungsraums und sie hatten sich mit seiner Jacke zugedeckt.

Die Kleidung lag zum Teil verstreut um sie herum und er dankte dem Himmel dafür, dass der Arzt die Heizung auch über Nacht eingeschaltet ließ. Wenigstens in der Hinsicht war er nicht geizig...

Schlaftrunken setzte er sich auf. „Meike, wir....haben völlig das Zeitgefühl verloren....obwohl, ich weiß schon noch, was alles so passiert ist....trotzdem...."
„Wir müssen nach Hause," antwortete Meike, während sie sich ebenfalls aufsetzte. „Noch schnell aufräumen, anziehen, oder umgekehrt, und dann ab nach Hause! Meine Eltern machen mir sonst die Hölle heiß...."
„Ich denke, die haben nichts dagegen, wenn du so lange arbeitest?" ,antwortete Lucas, während er in seine Hose schlüpfte und den Pullover vom Schreibtisch des Arztes fischte. „Du sagst, dass du so lange Überstunden machen und noch irgendwelche Post in die Patientenakten sortieren musstest und dein Vater sagt dann wieder, dass Lehrjahre nun mal keine Herrenjahre sind und dass alles, was einen nicht umbringt stärker macht...."
„Ja, aber halb eins ist vielleicht sogar für ihn zu viel," antwortete Meike, während sie die beiden Stühle, die vor dem Schreibtisch standen zurecht rückte. „Und bis wir hier fertig sind vergeht ja auch noch einiges an Zeit.....der Alte darf nichts merken...."

Lucas nickte, während er eine kurze SMS an seinen Vater Georg schrieb. „Mach dir keine Sorgen! Hab nur mit Meike die Zeit vertrödelt! Alles in Ordnung, ich komme gleich nach Hause...."

„Hast du deinem Vater geschrieben? Ich kann das nicht, meine Eltern haben kein Handy. Sie sagen, dass die Menschheit jahrhundertelang ohne so was ausgekommen ist, auch wenn sie mir eins gekauft haben...."
„Naja, mein Vater ist zum Glück schon im 21. Jahrhundert angekommen und besteht nicht mehr darauf, dass ich ihm eine Brieftaube schicke um ihm zu sagen, dass es später wird," antwortete Lucas.

Mittlerweile hatten sie sich wieder vollständig angezogen und trugen auch ihre Jacken. „Ist jetzt alles ordentlich genug?", fragte Lucas und Meike nickte.
„Ich glaube schon. So wirklich in Ordnung ist es sowieso nie. Irgendetwas findet er bestimmt wieder. Man kann ihm halt nichts recht machen!", erwiderte Meike und griff nach der Hand ihres Freundes.
„Aber das war ein schöner Abend. Der schönste, den ich je in diesem Büro hatte. Schade, dass du morgen deinen letzten Tag hier hast!"

„Ja, wirklich schade!", dachte Lucas mit einem Anflug von Bedauern.

Die Zeit der gemeinsamen Arbeit ging vorbei.

Als sie die Praxis verließen fiel Lucas Blick noch einmal auf die Tür, hinter der sich die Kellertreppe befand. Sie war geschlossen und er fühlte sich mit einem Mal ein wenig unwohl. So wirklich ernsthaft hatte er bislang nicht mit einem Monster im Zimmer neben dem Aktenraum gerechnet.
Aber war es nicht ein wenig leichtsinnig gewesen, so lange mit Meike in der Praxis zu bleiben, so lange auch nur eine minimale Möglichkeit bestand, dass irgendetwas nicht in Ordnung sein könnte? Selbst wenn die Wahrscheinlichkeit bei unter einem Prozent lag?

„Alles in Ordnung?", fragte Meike, die anscheinend bemerkte, dass er mit den Gedanken auf einmal irgendwo anders war und dann tat sie entsetzt. „Hoffentlich findet der nicht die Kondome....ich stelle mir vor, wie er vor uns steht, eins in der Hand hält und fragt, wem das gehört. Der macht sogar einen DNA-Test, um das herauszufinden. Traue ich ihm zu....und dann wundert er sich, dass du bei deinem ersten Mal überhaupt an so was denkst und er mich nicht durch Schwangerschaft los wird..."
„Haben wir entsorgt," antwortete Lucas, der in Gedanken noch immer bei der möglichen Gefahr durch Statuen war.

Es behagte ihm mit einem Mal gar nicht, jetzt durch die Dunkelheit nach Hause zu gehen, aber dies wollte er vor Meike natürlich nicht zugeben. Er war bereits vor längerem zu dem Schluss gekommen, dass es am besten war, wenn sie nach Möglichkeit nichts von den Dämonen erfuhr, die von Zeit zu Zeit ihr Unwesen in seinem Leben trieben.

Er hoffte, dass er diesen Vorsatz durchhalten konnte. Dämonenjagd mit Jonas, ein normales Leben mit Meike.

„Es sieht nach Regen aus. Außerdem hab ich keine Lust zum Laufen. Ich ruf uns ein Taxi, ein bisschen Geld hab ich noch," sagte er daher und sie sah ihn tatsächlich dankbar an. „Keine schlechte Idee. Ich hab auch noch ein bisschen Geld. Dann musst du nicht alles allein bezahlen," antwortete Meike. „Ich hab auch keine Lust zu Laufen."




Am nächsten Morgen, seinem letzten Arbeitstag, fand Lucas heraus, was es mit dem geheimen Raum neben dem Aktenkeller auf sich hatte.

Lucas, der sich aufgrund seiner Verspätung in der Nacht noch einen kurzen Anranzer seines Vaters hatte anhören müssen, stand an diesem Morgen ein wenig verschlafen am Schredder und steckte gerade den Inhalt der vorletzten Patientenakte hinein.

„Ich hab es tatsächlich geschafft, innerhalb einer Woche alle Akten zu vernichten! Hoffentlich hab ich auch die richtigen erwischt," dachte er mit einem Anflug von Boshaftigkeit, als er ein lautes Scheppern und dann einen wütenden Aufschrei aus dem Nebenraum hörte.

„So ein verfluchter Mist! Wer hat das hier so dämlich eingeräumt?", erklang die Stimme des Arztes und Lucas verließ seinen Arbeitsplatz, um nachzusehen, um was es ging. Außerdem hoffte er, einen Blick in den verbotenen Raum werfen zu können, auch wenn er nicht wusste, ob er wirklich wissen wollte, was sich darin befand.

Er sah, dass Licht unter der Tür hervor schien und drückte vorsichtig die Klinke herunter. Was würde er vorfinden?

Eine Statue, die auf einer Art Altar stand und einen vor ihr betenden Arzt? Oder wurde sein Chef gerade von einer Statue bestraft, weil dieser es versäumt hatte, ihm die versprochene Seele zu verschaffen?

Aber der Anblick, der sich Lucas beim Öffnen der Tür bot, war dermaßen ernüchternd, dass ihm fast ein enttäuschtes „Schade", entfahren wäre.

Im Raum standen rundherum Regale, in denen Röntgenbilder und ein paar Kartons herumstanden. Auf dem Boden standen zwei alte Computer sowie eine elektrische Schreibmaschine, die im Jahr 1985 sicherlich einmal sehr modern gewesen war. Auf einem kleinen Tisch befand sich ein nicht angeschlossenes Telefon mit Wählscheibe und ein großer roter Eimer, in dem sich einige kaputte Spielzeugautos ohne Räder befanden, stand neben einem der Regale. Waren sie aus der Spielecke im Warteraum aussortiert worden?

Offenbar wurden in diesem Raum tatsächlich alte Röntgenbilder, einige Unterlagen, vor allem aber jede Menge Gerümpel aufbewahrt. An einem dieser antiken Stücke hatte sich der Arzt offenbar auch verletzt.

Vor seinen Füßen lag eine alte Kaffeemaschine und der Arzt rieb sich seinen Fuß.

„Das blöde Ding ist mir genau auf den Zeh gefallen," sagte er und Lucas bemerkte, dass der Arzt lediglich Sandalen trug.
„Nun guck nicht so dumm! Räum die Scherben der Kanne weg! Das hat man davon, wenn man mal nett sein will! Ich hätte Meike runterschicken sollen, aber die kann ja sowieso nichts. Nicht mal saubermachen. Mein Raum sah aus....aber egal", klagte der Arzt ungehalten. „Die Kaffeemaschine ist kaputt und da ist mir eingefallen, dass ich sie vor ein paar Jahren aussortiert habe. Das Kabel hatte einen Wackelkontakt, aber wenn man ein wenig daran dreht funktioniert sie noch....und bevor ich Geld für eine neue ausgebe....."

„Ja, Geiz ist geil," murmelte Lucas und der Arzt warf ihm einen bösen Blick zu. „Nur weil ihr jungen Leute immer alles sofort ersetzt und dauernd das neueste Handy haben müsst, auch wenn das alte noch einwandfrei funktioniert, müssen das ja nicht alle so handhaben! Eure Generation ist hoffnungslos verwöhnt und verzogen....hol mal ein Kehrblech, das liegt hier gegenüber...."

Lucas nickte und griff nach dem Blech, das auf einem der Kartons lag. „Warum wird dieser Raum eigentlich verschlossen? Ich dachte schon, hier wäre ein Dä....Diamantenvorrat untergebracht...."

Der Arzt lachte kurz auf und schüttelte dann den Kopf. „Diamanten? Also ich verstehe deine Generation wirklich nicht. Seid ihr wirklich so dumm? Der Raum wird wegen der Röntgenbilder und ein paar anderer Unterlagen, die nun wirklich keinen was angehen, abgeschlossen. Einiges davon wird in den nächsten Tagen nach drüben umgeräumt, das kann dann bei der nächsten Aktenvernichtungsaktion beseitigt werden....aber Diamanten?"

Er schüttelte nochmals den Kopf, während Lucas die Scherben der Kaffeemaschine aufkehrte.

„Jetzt muss ich doch eine neue Maschine kaufen!", klagte der Arzt,. „Das geht doch wieder ins Geld. Es ist wirklich ein einziges Elend!"

Lucas musste sich eingestehen, dass es in dieser Arztpraxis zwar einen gruseligen Chef, aber keinen Dämon im Keller gab.

Die Dämonen lauerten nicht überall.  


Dämonische Statuen - RacheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt