Kapitel 60

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Ich weiß, dass es ewig gedauert hat. Aber jetzt gibt es endlich mal wieder ein paar neue Kapitel.


Kapitel 60




Gegen ihren Willen musste sich Tamara eingestehen, dass es nicht die schlechteste Idee war, jetzt, am späten Vormittag, in der Felgenberger Eisdiele zu sitzen, anstatt im Regen herumzulaufen und Fotos von alten und neuen Häusern zu machen.

Leider war dies nicht ihre, sondern die Idee ihrer Projektpartnerin und eigentlichen Erzfeindin Annika gewesen.

Sie ärgerte sich noch immer, dass man sie ausgerechnet in ein Zweierteam mit der ungeliebten Schulkameradin gesteckt hatte, gute Idee mit der Eisdiele hin oder her.
„Ich nehme noch einen Schokomilchshake. Ich kann mir das leisten...," stellte Annika nun zu allem Übel auch noch mit einem fiesen Grinsen fest.
Tatsächlich war das andere Mädchen einen halben Kopf größer und mindestens fünf bis zehn Kilo leichter als Tamara, die sich bislang keine so großen Gedanken um Dinge wie Übergewicht gemacht hatte und eigentlich stets der Ansicht war, dass die meisten Mädchen zu viel Theater um dieses Thema machten. Sie lag vom Gewicht her im absoluten Normalbereich, ihre Lieblingskleidungsstücke passten und im Sportunterricht war sie nicht die Langsamste und Ungeschickste.
„Mist, was antworte ich jetzt? Etwas Gemeines muss her....", dachte sie und sagte dann: „Stimmt, du kannst dir das wirklich leisten. Du solltest es sogar. Man sagt doch, dass zwanghafte Essensverweigerung ungesund ist und bevor noch jemand denkt, dass du unter einer Esstörung leidest solltest du den Shake wirklich trinken."

Annika zuckte kurz zusammen, antwortete aber nicht und bestellte ihren Schokomilchshake.
Nun ja, zumindest verkniff die andere sich weitere Kommentare und Tamara musste sich insgeheim eingestehen, dass die Zusammenarbeit mit Annika trotz der blöden Bemerkung doch ein wenig besser und harmonischer verlief, als sie im Vorfeld befürchtet hatte.
„Schade, dass wir keine Handys zum Fotografieren nehmen dürfen. Dieses alte Schwarzweißding ist doch blöd," murrte Annika nach einer Weile und deutete auf den in der Mitte des Tisches liegenden Fotoapparat, den ihre Lehrerin den Mädchen mitgegeben hatte. Dabei hatte sie ihnen den Auftrag erteilt, Schwarzweiß- und Buntbilder von denselben Motiven zu machen. Aber auch für die bunten Bilder sollten sie eine Kamera aus dem letzten Jahrhundert benutzen. Warum mussten manche Erwachsene dermaßen hinter dem Mond leben?
„Es ist doch blöd...", klagte Annika erneut und im Grunde genommen gab Tamara ihr sogar recht.
„Bei ihr darf man für Referate und Hausaufgaben ja auch nicht im Internet recherchieren. Anscheinend hält sie alles, was nach dem ersten Weltkrieg erfunden wurde für Teufelswerk.",stimmte Tamara in die Klagen mit ein.
Annika grinste und äffte die Lehrkraft nach. „Wehe, ich finde heraus, dass ihr etwas bei Wikipedia abgeschrieben habt. Dann rufe ich eure Eltern an und gebe euch eine Sechs wegen Leistungsverweigerung....."

„Sie nervt," stimmte Tamara ihrer Intimfeindin zu. „Aber leider springt meine Mutter auf solche Anrufe an und sagt dann, dass sie enttäuscht von mir ist...Manuel kann so was eher ab als ich...."

Annika verzog verächtlich das Gesicht, als Tamara den Namen ihres Bruders erwähnte und erneut fiel ihr ein, warum sie ihre Projektpartnerin nicht mochte. Aber glücklicherweise enthielt sich Annika eines Kommentars über ihren Bruder und deutete auf die Kamera.
„Sind wir bald fertig? Ich finde, wir sollten noch Fotos von den zwei Klamottenläden vor Ort machen und dann ist es gut."
Tamara hingegen fand, dass dies noch nicht genug war. Immerhin sollten sie ein großes Plakat mit Fotos basteln.
„Ich weiß nicht....das eine Haus ist natürlich älter, bestimmt spätes 19. Jahrhundert. Dürfte die Internethasserin also interessieren....trotzdem. Ein bisschen wenig...."

Annika seufzte übertrieben. „Wir haben doch schon diese alte Kirche, den dazugehörigen Friedhof, die neuere Kirche, dieses merkwürdige Kreuz am Feld und alles mögliche andere fotografiert....Das reicht jetzt wirklich...."
„Na gut," gab Tamara, die auch nicht wirklich Lust hatte, noch mehr Zeit mit der anderen und dem ungeliebten Projekt zu verbringen, schließlich nach. „Lassen wir die Fotos entwickeln, wenn jemand so was überhaupt noch macht, und kleben wir sie auf das Plakat."

Annika nickte zustimmend und wirkte sichtlich zufrieden. „Gut, gehen wir zum Fotoladen. Du weißt schon, der, in dem man Passbilder und so ein Zeug machen kann. Die beiden einzigen Klamottenläden dieses Ortes liegen ja auch auf dem Weg. Und du kannst die dann morgen abholen und das Plakat basteln..."
Tamara verwarf gedanklich sämtliche positiven Meinungsänderungen über Annika.
Zehn Minuten später verließen die beiden Mädchen die Eisdiele und machten sich auf den Weg zum Fotoladen des Dorfes. Das letzte Mal war Tamara bei ihrer Kommunion dort gewesen, ihre Mutter hatte sie und ihren Bruder im Kommunionanzug, den er überhaupt nicht mochte, fotografieren lassen.
Sie selber gefiel sich in ihrem weißen Kleidchen. Sie hatte sich wie eine Prinzessin gefühlt und überhaupt hatte ihr die ganze Feier weitaus mehr Spaß gemacht als ihrem Bruder, obwohl die Geschenkmenge für beide gleich ausgefallen war. Sogar ihr Vater hatte sich an diesem Tag gut gelaunt gewesen und hatte beide Kinder stolz an sich gedrückt.

Vorher machten Annika und Tamara halt vor den beiden nebeneinander liegenden Bekleidungsgeschäften.

„Hier ist der erste Laden, der Coole," stellte Annika schließlich fest, als die beiden Mädchen vor einem Schaufenster stehen blieben. „Machst du das Bild?"
Tamara nickte und ging ein paar Schritte zurück, um das komplette Haus ins Bild zu bekommen. „Geh aus dem Weg. Schließlich geht es nicht um uns, sondern um die Gebäude," bat sie ihre Projektpartnerin.

Annika grinste. Anscheinend war sie davon überzeugt, dass sie das weitaus bessere Fotomotiv abgeben würde, trat dann aber zur Seite, während Tamara zuerst das Foto mit der Buntkamera machte. Anschließend betrachtete sie das Gebäude kopfschüttelnd. Es handelte sich um ein altes, über Hundert Jahre altes Haus. Sie fand es sogar recht hübsch, es hatte etwas Romantisches an sich, obwohl sie sich hütete, dies Annika zu sagen.
„Lennerts Kleidung für den besonderen Anlass," stand über dem Eingang geschrieben. Und darunter, ein wenig kleiner: „Kommuniunskleidung, Brautmoden, Taufen oder Beerdigung – wir führen alles."
Ihr Kopfschütteln wurde aber nicht durch die Geschäftsbezeichnung, sondern durch das sich daneben stehende Haus ausgelöst, in dem sich ein weiteres Bekleidungsgeschäft befand.

Dort wurde eher Kleidung für den Alltag verkauft, sie war bereits häufig dort gewesen und von innen gefiel es ihr durchaus.
Aber es passte, aus architektonischer Sicht so gar nicht zu dem alten Gebäude. Es wirkte einfach zu modern. „Lennerts Laden passt besser," sagte sie daher auch zu Annika, aber diese zuckte die Achseln. Es war ihr wohl gleichgültig, ob ein Geschäft sich in eine Häuserreihe einfügte, wahrscheinlich zählte für Annika vor allem der Inhalt eines Ladens.
„Ich habe die Fotos," sagte sie schließlich. „Lass uns für heute Feierabend machen."

Dies brauchte sie Annika nicht zweimal zu sagen.

Aber dann machte sie noch, ohne groß darüber nachzudenken, ein Bild mit ihrem Handy von beiden Häusern. Auch Annika fing sie auf dem Bild ein.
„So, die Moderne kehrt in die Projektwoche ein," dachte sie mit einem bösen Lächeln, während Annika sie kopfschüttelnd ansah. „Dafür würde ich keinen Speicherplatz verschwenden. Mach doch lieber Bilder von Dominik. Der ist um einiges ansehnlicher als diese blöden Häuser.
Dem konnte Tamara innerlich nur zustimmen.
Am späten Nachmittag legte sich Tamara auf ihr Bett und schaute sich Fotos auf ihrem Handy an. Eines zeigte ihren missmutig dreinblickenden Bruder, als er den Abwasch machte und ihr die Zunge heraus streckte. Auf dem nächsten war Dominik zu sehen, als er vor der örtlichen Fahrschule stand, nachdem er sich dort für Fahrstunden angemeldet hatte.
Tamara seufzte innerlich. Es hatte Dominik zuhause einen kleinen Kampf gekostet, um seine Mutter davon zu überzeugen, dass er den Führerschein machen wollte. Seit den Ereignissen, die erst wenige Monate zurück lagen, benahm sich Dominiks Mutter fast schon zu fürsorglich und am liebsten wäre es ihr wahrscheinlich gewesen, wenn ihr Sohn niemals mehr etwas tun würde, was auch nur ansatzweise gefährlich werden konnte.
Nun, die Gefahren des Straßenverkehrs waren sicherlich existent, aber Dominik war entschlossen, dies als ein Risiko anzusehen, dass er, wie die meisten erwachsenen Menschen, eingehen würde. Glücklich war seine Mutter nach wie vor nicht über die Entscheidung.
„Er ist doch nicht leichtsinnig.", dachte Tamara und war mit einem Mal froh, dass ihre Mutter nichts über die Ereignisse, die Dominiks Mutter noch immer verfolgten, wusste. Sie wollte sich nicht ausmalen, dass ihre Mutter anfing sie und Manuel zu beglucken. Das war das letzte, was sie wollte und Manuel würde sich wahrscheinlich noch mehr und unfreundlicher zur Wehr setzen als sie.
Tamara schaute das letzte Foto an, dass sie mit dem Handy gemacht hatte. Es zeigte Annika, die vor den Häusern stand.

Sie erstarrte und schloss kurz die Augen, um sie dann wieder zu öffnen. Sie hatte richtig gesehen.

Zwischen den Häusern gab es einen schmalen Weg aus schwarzem Kopfsteinpflaster und dort stand eine in einen dunklen Umhang gehüllte schwarze Gestalt. Tamara fühlte sich an Bilder vom Tod oder Tolkiens Nazgul erinnert. Lediglich eine Sense fehlte der Gestalt, um tatsächlich wie der Tod auszusehen. Die Gestalt streckte eine Hand nach Annika aus und schien sie mit der anderen heran zu winken.

Außerdem gab es doch zwischen den Häusern in der Realität keinen Weg!


Dämonische Statuen - RacheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt