Kapitel 61

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Kapitel 61




Tamara setzte sich auf und starrte noch einmal auf das Bild auf ihrem Handy. Die schwarze Gestalt machte ihr Angst und vorsichtig hob sie den Kopf und sah sich in ihrem Zimmer um. Fast erwartete sie, das Geschöpf im Raum stehen zu sehen.
Was war das? Eine Dämonenstatue anscheinend nicht. Das Wesen hatte eher etwas geisterhaftes an sich. Aber konnten Statuen nicht auch wie Geister aussehen? Und wie sahen Geister überhaupt aus?

Sie hatte schließlich noch nie einen gesehen. Gab es sie überhaupt?

In der Hinsicht war sie nach den letzten Monaten bereit, beinahe an alles zu glauben. Oder war es doch eine Statue?

Was sollte sie nun mit dem Bild machen? Warum deutete die Gestalt auf sie und auf Annika?

Am liebsten hätte sie das unheimliche Foto gelöscht und nach einem Moment des Zögerns entschied sie sich dafür.
Ihre Finger zitterten leicht, ehe sie auf das „Löschen"-Symbol drückte. Aber die erwartete Erleichterung nach dem Verschwinden des Bildes blieb aus. Hatte sie gerade möglicherweise einen großen Fehler gemacht?

Sie dachte daran, ihrem Bruder oder Dominik, am besten beiden, von dem Foto zu erzählen und stand auf – um sich wieder hinzusetzen. Etwas schien sie daran zu hindern, sich an die beiden Dämonenjäger in ihrem unmittelbaren Umfeld zu wenden. Dabei wäre dies doch das Nahestehendste und auch Vernünftigste gewesen...

Hatte sie sich das Foto vielleicht nur eingebildet? Sie kicherte nervös. Das glaubte sie nicht wirklich. Es war real gewesen und sie hatte gerade das Dümmste gemacht, was sie in einer solchen Situation hatte tun können.

„Es gibt doch noch andere Bilder", dachte sie und hätte sich am liebsten gegen die Stirn geschlagen. Schließlich hatten sie Bilder, die von der selben Stelle aufgenommen worden waren, zum Entwickeln in den Fotoladen gebracht. Wenn diese merkwürdige Gestalt auf ihrem Handy zu sehen war, dann war sie bestimmt auch auf den gemachten Fotos zu erkennen.

Sie musste nur bis zum nächsten Nachmittag warten. Dann würde sie die Bilder im Laden abholen können.






Es war mitten in der Nacht, als Annika fröstelnd auf die beiden Boutiquen zuging. Sie hatte vergessen, eine Jacke mitzunehmen, als sie das Haus verlies.
Zumindest war sie nicht im Nachthemd aus dem Haus gegangen, die Zeit, sich eine Jeans und einen dünnen roten Pullover anzuziehen war gerade noch geblieben.

Sie wusste nicht einmal genau, warum sie eigentlich in die Straße zu den Boutiquen gegangen war. Es war immerhin zwei Uhr in der Nacht und wahrscheinlich lagen alle außer ihr im Augenblick im tiefsten Tiefschlaf.
Schlafen war etwas, was sie um diese Tageszeit normalerweise auch tat. Aber etwas war den ganzen Abend über anders gewesen.

Eigentlich hatte es bereits begonnen, kurz nachdem sie nach Hause gekommen war. Sie war recht froh gewesen, den Tag nicht mehr länger gemeinsam mit Tamara verbringen zu müssen. Annika fand sie zwar einerseits ganz nett, aber es lagen Welten zwischen ihnen.

Irgendwie war kein vernünftiges Gespräch möglich gewesen.

Mit ihrer besten Freundin Jennifer konnte Annika stundenlang über Prominente, Jungs und Mitschüler lästern. Das war mit Tamara nicht möglich. Sie konnte sich auch nicht vorstellen, mit Tamara in einer Boutique zu stehen und Klamotten anzuprobieren. Dazu fehlte dieser anscheinend das Interesse. Wahrscheinlich gehörte Tamara zu jenen Menschen, die neue Kleidung kauften, weil sie sie brauchten und sich dann auch etwas halbwegs hübsches aussuchten. Aber diese Art von Mensch ging nicht shoppen, weil es Spaß machte.

„Jennifer hätte mich sofort in die Boutique rein gezerrt um nach neuen Klamotten zu gucken und wir hätten wahrscheinlich kein einziges Foto gemacht," dachte Annika, die, nachdem sie nach Hause gekommen war, erst einmal ausgiebig mit Jennifer telefoniert hatte.

Dabei hatte vor allem Jennifer ziemlich über Tamara gelästert, aber Annika hatte sich, zu ihrer eigenen Überraschung, zu der Bemerkung hinreißen lassen, dass Tamara gar nicht so übel sei.
Daraufhin hatte Jennifer sie spöttisch gefragt, ob Tamara sie denn nun als beste Freundin ablösen würde.

„Nein, natürlich nicht! Die kannte nicht mal alle Gewinner von DSDS auf Anhieb. Das geht gar nicht!", hatte Annika empört geantwortet.
Natürlich war und blieb Jennifer ihre beste Freundin.
„Dann ist es ja gut," meinte Jennifer und lachte boshaft. „Denk mal an ihren bescheuerten Bruder. Die haben die gleichen blöden Gene. Mit so was kann man nicht befreundet sein!"

Dem hatte Annika dann letztlich zustimmen müssen und sie hatten anschließend über andere Dinge gesprochen.

Aber so wirklich war Annika nicht bei der Sache gewesen.

Den ganzen restlichen Tag hatte sie sich unruhig gefühlt und richtig schlimm war es dann geworden, als sie abends ins Bett gegangen war. Sie konnte nicht einschlafen und spürte auf einmal den verrückten Wunsch, das Haus zu verlassen und zur Boutique zu gehen.

Sie wunderte sich darüber, konnte aber nicht dagegen ankämpfen. Daher zog sie sich schnell um und schlich aus dem Haus. Schließlich würden ihre Eltern ihr die Hölle heiß machen, wenn sie um diese Zeit das Haus verließ. Diesen Ärger wollte sie definitiv nicht riskieren.

Nun stand Annika vor den beiden Boutiquen, aber irgend etwas war anders als am Nachmittag. Dann fiel es ihr auf.
Die beiden Häuser standen nicht mehr nahe beieinander. Statt dessen gab es jetzt einen schmalen, vielleicht einen Meter breiten Weg, vielmehr einen Pfad zwischen den Häusern. Sie konnte nicht sehen, wo er hinführte vor allem konnte sie sich nicht erklären, warum er plötzlich da war. Wege erschienen nicht plötzlich aus dem Nichts.

Sie hörte Schritte hinter sich und jetzt war sie der Panik nahe. Etwas stimmte hier ganz und gar nicht. Sämtliche Schreckensszenarien von denen sie jemals gehört hatte gingen ihr durch den Kopf.

Sie fuhr herum, aber es war nicht irgend ein unheimlicher Perverser oder ein Monster, das hinter ihr stand, sondern ihre Projektpartnerin Tamara.





Tamara hatte nicht einschlafen können. Auch wenn sie nicht wusste, dass sie nicht die einzige war, der es so erging, hatte sie mit einem Mal den Drang verspürt, aus dem Haus und zur Boutique zu gehen. Zur Boutique, zu dem merkwürdigen Weg und der unheimlichen Gestalt, die sie auf dem Foto gesehen hatte.

Sie erlebte so etwas nicht zum ersten Mal. Bereits vor längerer Zeit war sie zu einer Meerjungfrauenstatue gerufen worden. Damals hatte sie Hilfe erhalten...

Dies würde dieses Mal nicht geschehen. Denn sie konnte weder Manuel noch Dominik Bescheid sagen. Etwas hinderte sie daran und sie kannte dieses Gefühl noch zu gut.

„Eisenkraut! Hier unten gibt es kein Eisenkraut mehr! Mama fand die Pflanzen hässlich und hat sie weggeworfen. So muss es gewesen sein!", dachte sie und ärgerte sich kurz über ihre Mutter. Sie musste es gewesen sein.
Weder Manuel noch sie hätten die Pflanzen entfernt, die sie auf Jonas Rat an einigen Stellen im Haus platziert hatten.

Sie hätte mehr darauf achten müssen...

Nun standen Tamara und Annika nebeneinander und starrten auf den Weg, der eigentlich nicht da sein durfte.

„Annika...da war etwas auf einem Foto zu sehen...", stammelte sie, aber die andere antwortete nicht. Statt dessen wimmerte sie, als eine Gestalt am Anfang des Weges erschien.

Diese war vollkommen schwarz und schien fast mit der Dunkelheit zu verschmelzen. Dazu trug das Wesen denselben Umhang wie auf dem Foto.

Am liebsten wäre Tamara davon gelaufen. Aber sie konnte sich nicht rühren. Was würde jetzt geschehen? Würde das Wesen ihnen jetzt die Seelen heraus reißen?

Nun hob es auch noch die Hand und winkte die beiden Mädchen heran. Annika begann zu weinen. Sie zitterte vor Angst und griff nach Tamaras Hand. Diese war auch froh, dass sie nicht vollkommen alleine war.

Sie konnten sich nicht dagegen wehren und gingen auf die Gestalt zu, die höflich zur Seite trat und sich sogar leicht verbeugte, als sie die Mädchen mit einer Geste aufforderte, den Weg zu betreten.
Dazu mussten sie hintereinander her gehen und Annika betrat als erste den Pfad, während Tamara, sich immer noch an der Hand der anderen festklammernd, folgte.

Der Weg war dunkel, aber irgendwo am Ende flammte ein Licht in einem matten Rotton. Sie spürte, dass die Gestalt ihnen folgte.

Der Weg endete vor einem kleinen Haus. Es bestand aus altem grauen Stein und sah aus, als würde es aus dem vorletzten Jahrhundert stammen. Eigentlich befand sich an dieser Stelle kein Haus, denn hinter den beiden Boutiquen gab es normalerweise einen kleinen Parkplatz. Ungefähr an dieser Stelle mussten sie jetzt sein, wenn Tamara es richtig einschätzte.

Statt dessen öffnete sich die Tür von selbst und die Mädchen betraten, obwohl sie auch das nicht tun wollten, das Haus. Die Gestalt folgte ihnen.

Anscheinend bestand das Haus nur aus einem einzigen Raum. Dieser wurde von vielen Kerzen erleuchtet, die auf einem alten Holztisch standen.
Ansonsten befanden sich keine Möbel in dem fensterlosen Raum, der den Charme einer Kerkerzelle versprühte.

Es roch feucht und modrig und auf dem Boden verteilt lagen unzählige Knochen.

Tamara schluckte schwer, als sie einen Schädel sah. Offensichtlich handelte es sich um Menschenknochen. Waren Annika und sie nicht die ersten Opfer, die diesem Geschöpf in die Falle gegangen waren? Mit einem Mal hoffte Tamara, dass sämtliche Dämonenjäger, die sie in den letzten Monaten kennen gelernte hatte, einschließlich ihres Bruders und ihres Freundes, diesen Ort stürmen und sie und Annika von diesem Wesen wegholen würden.

Leider wusste niemand, wo sie war. Warum hatte sie das Foto gelöscht und es nicht statt dessen Manuel oder Dominik gezeigt? War sie denn wahnsinnig oder unzurechnungsfähig gewesen?

Wahrscheinlich war am ehesten letzteres der Fall, denn ihr wurde klar, dass sie schon zum Zeitpunkt, als sie das Foto löschte, unter diesem merkwürdigen Bann, der verhinderte, dass sie sich irgendwo Hilfe holte, gestanden haben musste.

Eine kalte Hand legte sich auf ihre und Annikas Schulter. Annika schrie und schluchzte laut, als die Gestalt, die noch immer hinter ihnen stand, zu sprechen begann.

„Ihr gehört mir. Ich werde zuerst euer Fleisch von den Knochen nagen und dann eure Seelen verschlingen."


Dämonische Statuen - RacheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt