Kapitel 66

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Als ich am Montag ins Büro kam, mehr schlafend als wach, erschrak ich mich, weil mich ein junger, dunkelhaariger Mann mit Brille angrinste. „Guten Morgen", sagte er und stand auf. Ich atmete tief durch, so viel gute Laune am Morgen in meiner Situation war nicht gut. „Hi", entgegnete ich knapp und ging auf die Kaffeemaschine zu. „Ich bin Leon, ich bin für die nächsten vier Wochen Praktikant hier. Ich studiere Journalismus..." - „Aha...", ich setzte mich an meinen Computer und drückte den Einschaltknopf, „tut mir leid, ich bin morgens noch nicht sonderlich gesprächig. Ich bin Milena" Ich gab ihm die Hand und wieder lächelte er mich an. „Du bist die, die immer die Fotos hier macht oder?" - „Gut erkannt, Isi, also Isabelle, müsste auch gleich kommen, sie schreibt die dazugehörigen Artikel."

Isi unterhielt sich fast durchgängig mit Leon, während ich gedankenverloren versuchte, die Fotos vom Wochenende und der letzten Woche zu sortieren. Ben hatte sich seit unserem Gespräch gestern nicht mehr bei mir gemeldet, aber ich musste akzeptieren, dass er wohl Zeit brauchte. Die Zeit, die ich ihm gegeben habe, jetzt musste ich auch selbst die Füße still halten. Ich wollte, dass er die richtige Entscheidung trifft, eine Entscheidung, mit der am Ende auch er glücklich ist. Doch am liebsten hätte ich diese Entscheidung jetzt sofort gehabt, nein, am liebsten wäre es mir, wenn überhaupt keine Entscheidung, kein Gespräch mit einer anderen, nötig wäre.

In der Mittagspause ging ich mit Isi zum Bäcker. „Du, ich glaub, Leon hat ein Auge auf dich geworfen, Milli!"- „Ach quatsch. Er hat mich heute morgen schon von meiner nettesten Seite kennengelernt, als er mich direkt zugetextet hat, als ich das Büro betreten habe... Aber ich denke, er ist ganz nett..." Ich zog mein Handy aus der Tasche, keine Nachricht von Ben. „Gib ihm Zeit, er wird sich schon bei dir melden. Da bin ich mir ganz sicher!" Ich seufzte und nickte.

Nach der Arbeit schmiss ich mich zuhause auf die Couch und zappte durchs Fernsehprogramm, doch wie immer, wenn man wirklich auf der Suche nach Ablenkung ist, ließ sich nichts finden. Ich ging auf den Balkon und zündete mir eine Zigarette an. Ich dachte an das letzte Gespräch mit Ben, an unsere letzte Nacht. Auch wenn das ganze erst einen Tag zurücklag und er mich betrogen hatte, er fehlte mir. Schrecklich. Er war über eine so lange Zeit ein fester Teil meines Lebens gewesen, dass ich nicht mehr wusste, wie man alleine war. Abermals schaute ich auf mein Handy und hatte schon auf den Hörer neben seinem Namen gedrückt, als ich kopfschüttelnd wieder auflegte. Ich sollte aufhören, mich zu benehmen wie ein Teenager und versuchen, über ihn hinwegzukommen.

BENS SICHT

Ich lag auf dem Bett und starrte die Decke an, als es an meiner Zimmertür klopfte. „Mhm?", rief ich und Timur steckte seinen Kopf durch die Tür. „Hey, alter! Was ziehst du denn für ein Gesicht und was läuft hier für Musik?" - „Mir geht's nicht besonders gut...", ich setzte mich auf und fuhr mir durch die Haare. Die Jungs wussten nichts von der Geschichte mit Nancy, sie wussten nicht, dass ich mit ihr geschlafen hatte. „Willst du drüber reden? Du siehst wirklich nicht gut aus." - „Ich glaube, das bringt nichts. Ich hab heute und gestern schon so viel geredet, tut mir leid." Timur nickte mir verständnisvoll zu. „Sollen wir was trinken gehen?" Ich nickte stumm, rutschte vom Bett und zog mich um. Kurz darauf machten wir uns auf den Weg zur Kneipe. Doch Timur wäre nicht einer meiner besten Freunde, wenn er nicht versuchen würde, hinter mein Problem zu kommen. „Geht's um Milena?", hakte er nach. Ich schnaubte. „Auch. Okay, pass auf. Kurzfassung, ich erzähls nur einmal und ich will keine Standpauke von dir hören", antwortete ich und wartete auf Timurs Reaktion, „ich hab Gefühle für jemand anderen, ich hab auch mit ihr geschlafen, nicht nur einmal. Milena weiß davon... Ich war nach unserem Auftritt in Bielefeld noch bei ihr, um mit ihr zu reden, doch bin danach abgehauen... zu der Anderen. Naja... und nun muss ich mich entscheiden, was ich will, wen ich will, was ich fühle... und ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht..." Eine Weile starrte Timur mich einfach nur an, ohne jegliche Reaktion. „Bitte sag mir, dass es nicht wieder Caro ist..." - „Nein, man! Mit der bin ich wirklich durch!" - „Gut. Kenn ich sie?" Ich schloss kurz die Augen und biss mir auf die Lippe, auch deshalb ist er wohl einer meiner besten Freunde. „Ja", antwortete ich knapp, „bitte, frag nicht weiter nach. Mir geht es damit schon beschissen genug..." Timur bestellte uns noch zwei Bier und wir wechselten das Thema. Doch in Gedanken hing ich immer noch bei den Gesprächen mit Milena und Nancy. Nancy hatte mich nicht wirklich zu Wort kommen lassen, mich angeschrien und beschimpft. Übel nehmen konnte ich es ihr nicht, schließlich dachte sie vermutlich, dass zwischen uns alles in Ordnung ist.

Timur wedelte mit seiner Hand vor meinem Gesicht rum. „Hallo? Hörst du mir überhaupt zu?" - „Tut mir leid, ich war voll in Gedanken. Was hast du gesagt?" - „Ich hab gefragt, ob wir woanders hingehen wollen..." Timur schaute an mir vorbei und ich drehte mich um. Milena war in Begleitung von Isi und einem jungen Mann. Sie unterhielten sich angeregt und Milena wirkte irgendwie... glücklich. Was mir wiederum einen starken Stich ins Herz versetzte. Ich trank mein Bier aus und nickte Timur zu. „Ja, lass uns gehen..." Auf dem Weg nach draußen warf ich Milena noch einen Blick zu, doch sie schien mich nicht zu bemerken.

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