Kapitel 67

71 4 0
                                    

MILENAS SICHT

Als ich am nächsten Morgen ins Büro kam, begrüßte Leon mich mit einem breiten Grinsen. „Na, wieder fit?", fragte ich schelmisch nach. „So halb... Das letzte Bier gestern war auf jeden Fall schlecht! Aber morgen haben wir ja schon Freitag. Was steht denn bei dir so an?" Ich fand Leon wirklich nett, doch konnte ich seine Fragen schlecht deuten. Was wollte er jetzt hören? Vielleicht bildete ich mir auch zu viel darauf ein und er war einfach nur interessiert. Ich schüttelte den Kopf, um die vielen Gedanken abzuschütteln. „Ich bin morgen Abend bei einem Konzert von Hudson Taylor, einer Band aus Irland. Am restlichen Wochenende werde ich dann mal ein bisschen entspannen, die letzten Wochen waren sehr anstrengend und aufwühlend. Und was steht bei dir an?" - „Ich fahr am Wochenende in meine alte Heimat, nach Bremen und besuche meine Eltern. Die hab ich schon länger nicht mehr gesehen" Wir unterhielten uns noch kurz, ehe ich mich wieder meiner Arbeit widmete.

Als ich von der Arbeit nach Hause kam, fand ich einen großen Briefumschlag auf meiner Fußmatte liegen. Ich hob ihn auf und blickte mich im Treppenhaus um, doch natürlich war hier niemand. Auf dem Umschlag stand mein Name und diese Handschrift hätte ich unter tausenden erkannt. Es war Bens. Ich schloss meine Tür auf, schmiss meine Sachen in die Ecke und setzte mich mit zitternden Händen aufs Sofa. Ich fühlte den Umschlag ab, es schien, als wäre eine CD drin. Ich suchte mein Handy und verzog mich zuerst in die kalte Januarluft auf den Balkon. Ich schrieb Isi eine SMS und schickte ihr ein Foto hinterher. „Worauf wartest du noch? Öffne ihn!", schrieb sie kurz darauf zurück. Als ich wieder auf dem Sofa lag, fühlte ich mich wie gelähmt. Doch vorsichtig öffnete ich den Briefumschlag und zog den Zettel mit der beigefügten CD heraus. Ich faltete den Zettel auf und begann zu lesen:

„Liebe Milena, ich weiß, dass seit unserem Gespräch noch nicht so viel Zeit vergangen ist, doch manchmal wird einem ganz schnell so viel klar. Da ich aber noch nie gut darin war, meine Gefühle in Worte zu packen, erst recht nicht, wenn ich der Person gegenüberstehe, habe ich mich für diesen Weg entschieden... Ich bitte dich, dir die CD, die ich dir beigefügt habe, anzuhören und erst dann weiterzulesen. Lieder können manchmal so viel mehr aussagen, als Worte. Bitte lass dich auf die Musik ein, auch wenn es nicht deine Richtung ist, es geht hier viel mehr um den Text, als die Musik selbst..."

Ich stoppte, griff nach der CD, legte sie in den Spieler ein und drückte auf Play. Eine ruhige Klaviermusik erklang, als ich mich wieder aufs Sofa setzte.

Kann mich selber nicht verstehen, seh uns hilflos untergehen.

Ich dreh noch durch, mein Kopf ist leer,

jedes Wort wog tonnenschwer.

Dein Vertrauen ausradiert, doch passiert, das ist passiert.

[...]

Und wie ein Bettler mit der ausgestreckten Hand,

bettel ich um Glück am Straßenrand

[...]

Warum tust du mir das an? Ich weiß, dass ich mich ändern kann.

Habs dir tausendmal versprochen und millionenmal gebrochen...

Dein Ultimatum hab ich nicht geglaubt, das ziehst du niemals durch,

ich hab darauf vertraut.

Ben hatte absolut recht, meine Musik war das wirklich nicht, doch auch die folgenden Songs vermittelten mir das Gefühl, dass Ben wirklich bereute, was er getan hatte. Ich nahm den Brief wieder zur Hand und las weiter.

„Mir ist bewusst geworden, dass ich nur mit dir der Ben sein kann, der ich sein will. Dass es mir so viel besser geht, seit ich dich habe. Seit es dich in meinem Leben gibt. Dass ich so dumm war, das alles aufs Spiel zu setzen, dass ich es riskiert habe, dich zu verlieren. Wenn ich könnte, würde ich die Zeit zurückdrehen und diesen Fehler nie begehen. Und dir jeden Tag aufs neue zeigen, was ich so an dir liebe, warum du mich so glücklich machst.

Ich habe Nancy gesagt, dass es bei uns kein wir mehr gibt. Dass das keine Zukunft haben kann. Sie kann mir nicht das geben, was du mir gibst. Auch nicht, wenn ich sie besser kennenlerne. Denn für sie werde ich in erster Linie immer Casper sein. Aber das bin nicht ich, nicht nur. Du hast mir das wieder bewusst gemacht.

Ich liebe dich, Milena. Ich liebe dich und ich möchte dich zurück. Ich möchte dich wieder glücklich machen, ich möchte für dich da sein, wenn es dir schlecht geht. Vielleicht kannst du es irgendwann wieder zulassen und mich wieder an deinem Leben teilhaben lassen. Ich werde warten. Ben"

Ich schluckte. Als ich den Brief wieder zurück in den Umschlag schob, bemerkte ich, dass sich noch etwas in ihm befand. Ich schüttelte und mir fiel ein Foto auf den Schoß. Ein Foto von uns beiden, aufgenommen bei einem unserer ersten Treffen, wie ich vermutete. Ich kannte das Foto nicht, konnte mich nicht daran erinnern. Aber wir sahen glücklich aus. Ich hielt das Foto lange in den Händen, ehe ich mein Fotoalbum aus dem Schrank zog und es zu den anderen Fotos mit Ben klebte. 

Ich las den Brief noch ein paar Mal, aber ich wusste, dass eine Reaktion meinerseits jetzt zu übereilt war. Deshalb machte ich mich recht früh bettfertig, erzählte Isi am Telefon noch kurz von seinem Brief und fiel dann in einen kurzen unruhigen Schlaf. Immer wieder wachte ich auf und dachte über den Brief und Bens Worte nach.

Auch Isi bemerkte, dass ich nicht richtig bei der Sache war. „Triff dich mit ihm", mahnte sie mich nach Feierabend. „Ich weiß nicht, ob das die richtige Entscheidung wäre. Ich will nichts übereilen..." - „Was gibt es denn da noch nachzudenken? Du liebst ihn, oder nicht? Und du willst ihn zurück. Es gibt nie, nie im Leben, eine 100%ige Garantie dafür, dass es wieder gut wird, dass alles so läuft, wie du es möchtest. Aber ich denke wirklich, dass er es ernst meint." - „Ich werde darüber nachdenken und mich dann entscheiden... Ich muss jetzt auch los, sonst komm ich zu spät zum Konzert!" - „Lauf nicht wieder vor deinen Gefühlen und Entscheidungen davon!", rief Isi mir hinterher.

FotoalbumWo Geschichten leben. Entdecke jetzt