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Valerie

Beinahe eineinhalb Monate besuchte ich nun bereits die Schule im Reservat. Inzwischen hatte ich mich eingelebt und die bestehenden Strukturen kennen gelernt. Das bedeutete allerdings nicht, dass ich mit dem Stoff hinterher kam.
Einen Vorteil hatte der Wechsel mitten im Schuljahr jedoch auch - die Weihnachtsferien standen kurz bevor. Nun ja noch nicht ganz, doch schon morgen würde der Dezember beginnen.
"Adventszeit", nuschelte ich schlaftrunken und versuchte meinen Kopf aufrecht zu halten, doch immer wieder merkte ich, wie ich davon driftete.
Jemand knallte lautstark ein Buch auf den Tisch vor mir, sodass ich erschrocken hochfuhr.
Nach einem genaueren Blick erinnerte ich wieder, wo ich mich befand. In der Schulbibliothek, zusammen mit Olivia. Die Weihnachtsprüfungen standen bevor und meine Freundin hatte sich selbstloser Weise dazu bereit erklärt mir beim Lernen zu helfen. Doch nun stieß sie scheinbar an ihre Grenzen. Breitbeinig baute sie sich vor mir auf. „Valerie Moore, wenn du mir nicht zuhörst, können wir das Ganze auch gleich bleiben lassen."
Mir war klar, dass ich ihr allmählich den letzten Nerv raubte. Immerhin opferte sie ihre freie Zeit für mich und ich verschlief zum Dank die Hälfte ihres Unterrichts beinahe.
Doch wirklich verantwortlich konnte sie mich dafür nicht machen. Ich wollte ihr ja zuhören und lernen, aber ich bekam einfach nicht ausreichend Schlaf. Jedes Mal, wenn ich glaubte eine ruhige Minute zu bekommen, versuchte der Wolf in mir die Oberhand zu ergreifen. Es war ein ständiger Kampf. Ein Kampf, der mich schon längst all meine Energie gekostet hatte.
"Entschuldige Liv, ich probier' ja wach zu bleiben, aber..." Betrübt senkte ich den Kopf. Ich wollte ihr nicht in die Augen sehen und vor allem wollte ich sie endlich nicht mehr anlügen müssen. Aber was sollte ich ihr schon erzählen? Die Wahrheit? Wer würde diese Seite an mir wohl akzeptieren? Richtig, niemand.
Ich seufzte betrübt, woraufhin meine Schultern noch weiter herunter sackten.
"Hey, Val." Vorsichtig legte mir Olivia einen Finger unter das Kinn und zwang mich sie anzusehen. Das Band unserer Freundschaft war über die Wochen gewachsen und hatte an Kraft zugenommen, sodass weder sie noch ich es ertragen konnten, wenn die andere litt. Ich sah in eine andere Richtung, nicht in der Lage ihr in die Augen zu schauen.
"Du Val?", stupste mich Olivia mit ihrer Nase an, was mich zum Lächeln brachte.
"Hm?"
Kurz zögerte meine Freundin, ehe sie fortfuhr: „Ich sag' es ja nur ungern, aber ich glaube, dass du für Mathe und Chemie einen Profi brauchst."
Erneut entwich mir ein Seufzen. Sie hatte ja Recht, was diese beiden Fächer anbelangte, war ich tatsächlich ein hoffnungsloser Fall. Es musste schon ein Wunder geschehen, damit ich in beiden Arbeiten eine gute Note schrieb. „Und wer soll das sein?"
Schweigen breitete sich zwischen Olivia und mir aus. Scheinbar kannte sie niemanden, der einmal annähernd die Ansprüche erfüllte, welche mit mir einhergingen. Wusste ich's doch. Es ist hoffnungslos. Geschlagen sank ich auf meinem Stuhl zusammen und begann bereits mich mit dem Gedanken abzufinden.
Ohne Vorwarnung schoss Liv plötzlich aus ihrer Starre heraus. "Vielleicht kann dir ja Emily helfen!"
Emily? „Wer ist Emily?"
Grinsend klatschte meine Freundin in die Hände und begann um mich herum zu tanzen. Fast hätte ich geglaubt, sie hätte ihren Verstand verloren, wenn da nicht das vertraute Glitzern in ihren Augen gewesen wäre.
"Früher, vor vielleicht zwei Jahren, hatte ich immer meine Schwierigkeiten mit Englisch, aber dann haben mich meine Eltern zu ihr geschickt." Ein hohes Quietschen löste sich aus ihrer Kehle. „Emily Young ist wirklich die beste Lehrerin für alles und jeden."
Mit jedem Wort, das aus ihrem Mund drang, wurden meine Augen größer. So wie Olivia von ihr schwärmte, musste diese Emily ja wirklich ein echtes Wunderkind sein. Vielleicht war sie meine Chance. „D-Denkst du, sie würde mich unterrichten?"
Schnaubend wedelte Liv mit der Hand durch die Luft. „Na klar! Du kannst sie gleich mal anrufen und ihr schöne Grüße von mir bestellen."
Damit tippte meine Freundin auch schon auf ihrem Handy herum und presste es mir keine zwei Sekunden später ans Ohr. Während es wählte, beschleunigte sich mein Herzschlag ganz von allein und Schweiß sammelte sich in meiner Handfläche. Ich mochte es nicht planlos in irgendetwas hinein zu laufen und doch befand ich mich nun in dieser Situation.
Ein Rascheln ertönte vom anderen Ende des Hörers, ehe sich eine klare Frauenstimme mit „Young?" meldete.
"H-Hallo", stotterte ich erst einmal, da mir entfallen war, was ich eigentlich sagen wollte. „Mein Name ist V-Valerie Moore. Olivia Korey hat sie mir als Nachhilfelehrerin empfohlen, ist das richtig?" Ich biss mir auf die Lippen. Selbst in meinen Ohren hörte ich mich, wie ein kleines Mädchen an.
Allerdings schien dies Emily nicht zu stören, denn sie antwortete ohne Umschweife: „Ja, das ist korrekt."
Nicht einmal fünf Minuten später hielt ich einen Zettel mit einer Adresse und einer Uhrzeit in der Hand. Bereits morgen sollte ich meine erste Nachhilfestunde bei Emily erhalten, wobei mir allein der Gedanke ein mulmiges Gefühl beschwerte.
"Du packst das schon", kicherte Olivia neben mir, der mein Gesichtsausdruck wohl nicht entgangen war und klopfte mir kräftig auf die Schulter.

MondgeheulWo Geschichten leben. Entdecke jetzt