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Gleich nachdem ich zurück in den Wagen gestiegen war, hatte mich die Müdigkeit übermannt und mir waren die Augen zugefallen.
Als ich nun das nächste Mal erwachte, erkannte ich Liam, der sich gerade über mich beugte. Ich gähnte herzhaft und streckte mich.
„Wo sind wir?", murmelte ich dann, während ich mich schon wieder zusammenrollte. Liam lachte und half mich dabei mich zuzudecken. Als das geschafft war, streichelte er sanft über meinen Kopf und flüsterte: „Wir sind bei mir."
„Bei dir?", hakte ich schlaftrunken nach, ohne die Worte tatsächlich zu begreifen. „Wissen meine Eltern..." Ich gähnte und war schon fast wieder eingeschlafen, als Liam mir antwortete: „Ich hab' ihnen bescheid gegeben."
Ich brachte ein halbes Lächeln zustande, während Liam mich weiter streichelte. Ich gab ein zufriedenes Brummen von mir. Gleichzeitig fragte sich ein Teil meines Gehirns jedoch wann und wie ich meine Schuhe und Socken losgeworden war? Ach egal, schüttelte ich diesen Gedanken ab und kuschelte mich tiefer in die Laken.
„Na bequem?"
„Mh. Mh", brummte ich zustimmend. Als ich dann merkte, wie sich die Matratze zu meiner Rechten ein wenig absenkte und Liam zu mir ins Bett schlüpfte, rollte ich mich herum und kuschelte mich an seine verführerisch duftende Brust. Danach begann ich wegzudriften und bekam gerade noch Liams liebevoll geflüstertes: „Schlaf gut, kleine Kriegerin" mit.

Die ersten Stunden verbrachte ich vollkommen friedlich an die Seite meines Wolfes gekuschelt. Mein Schlaf war ruhig und meine Gedanken frei. So ruhig, dass sich mein Unterbewusstsein beinahe dieser Illusion einer ruhigen Nacht hingab. Beinahe.
Denn nach und nach drangen die Bilder wieder in meinen Geist. Erst waren es nur verworrene Gedanken, die dann zu verschwommenen Bildern wurden. Und dann... stand ich wieder auf dem Feld, fiel vor der sterbenden Frau auf die Knie und versuchte sie irgendwie am Leben zu erhalten. Aber genau wie zuvor sagte sie mir nur, dass ich mich erinnern sollte.
Erinnern an was?!, schrie ich sie an, während ich mit beiden Händen versuchte die Blutung an ihrer Seite zu stoppen. Ein müdes Lächeln hatte sich auf ihren Gesicht ausgebreitete, ehe ihre Lippen lautlos damit begannen Worte zu bilden: „Erinnere dich an deine..."

Ich erwachte mit einem Schrei. Gleich darauf begann ich haltlos zu schluchzen. Ich war so nah dran gewesen. So nah!
Zwei starke Arme schlossen sich um mich und zogen mich zurück an einen warmen Körper, von dem ich mich im Schlaf weggedreht haben musste. Ich vergrub meinen Kopf in Liams Halsbeuge, während weitere Tränen über meine Wangen kullerten.
Nie in meinem Leben hatte ich mich hilfloser gefühlt als in diesem Moment. „An was erinnern? Verdammt?!", schluchzte ich, ohne tatsächlich eine Antwort zu erwarten, während mich meine Gefühle überrannten.
Liam blieb die ganze Zeit bei mir. Er schwieg, obwohl ich seine Sorge spüren konnte und hielt mich - anstatt Fragen zu stellen - nur weiterhin fest in seinen Armen. Seine Wärme spendete mir Trost, gab mir einen Ansatz mich wieder aufzurichten und wieder zu mir zu kommen. Er strahlte die nötige Ruhe aus, die ich brauchte, um mich zu beruhigen, was mir letztendlich gelang.

"Oh man", schniefte ich lachend und wischte mir die Tränen von der Wange. Normalerweise zählte ich nicht zu den Menschen, die dicht am Wasser gebaut waren. Ich kam mir so dumm vor, fühlte mich schwach und entblößt. Ich warf Liam einen beschämten Seitenblick zu. "Tut mir leid, dass du das gerade mit ansehen musstest."
Eigentlich hatte ich vor gehabt, damit die Stimmung etwas aufzulockern, doch ich erreichte genau das Gegenteil. Von jetzt auf gleich wurde sein Gesicht noch finsterer. "Hör auf dich zu entschuldigen", knurrte er dann.
Überrascht zuckte ich bei der Wut, die in seiner Stimme mitschwang zussmmen und sah ihn aus großen Augen an. Sofort wurde seine Züge wieder weicher. „Alles in Ordnung?"
Ich zuckte mit den Schultern und schmiegte meine Wange in seine Handfläche. „Ich weiß nicht. Ich meine es war doch nur ein Traum oder?"
Ich schniefte, was Liam ein zärtliches Lächeln auf die Lippen zauberte und ihn dazu brachte mich erneut in den Arm zu nehmen. Kurz versuchte ich mich dagegen zu wehren, gab aber schon nach kurzer Zeit auf. Es gefiel mir einfach ihn um mich zu haben, denn auch wenn ich es mir nie offiziell eingestehen würde, machten mich diese Träume fertig und nur Liam konnte mir dann ein Stück meiner alten Stärke zurück geben.
„Hey", murmelte Liam nach einer Weile in mein Haar. „Hast du Hunger?"
Unwillkürlich musste ich schmunzeln. „Wie ein Wolf."
Liam löste sich von mir, ehe er mir lächelnd eine Hand hinhielt. „Dann komm, ich glaub ich rieche da Emilys berühmte Blaubeer-Muffins."
Ich ließ mir von ihm aufhelfen, zögerte dann aber und fuhr mir mit einer Hand übers Gesicht. Oh man, ich musste schrecklich aussehen. Eilig entwand ich mich aus seinem Griff und huschte mit den Worten, dass ich kurz nochmal ins Bad musste, an ihm vorbei durch die Tür.
Als mir wenig später dann mein Spiegelbild begegnete, bestätigte sich meine schlimmste Vermutung. Meine braunen Haare sahen aus, wie ein Vogelnest. Ich hatte schreckliche Augenringe und meine Nase konnte locker mit der von Rudolf dem Rentier mithalten.
Ich stöhnte und vergrub mein Gesicht in meinen Händen: Konnte der Tag noch schlimmer werden?

Und ob er das konnte. Gerade, als ich mich doch dazu entschlossen hatte, endlich runter in die Küche zu gehen, flogen mir am Treppenansatz laute und vor allem aufgebrachte Stimmen entgegen.
„Das kann so nicht weitergehen, wir müssen etwas gegen sie unternehmen", hörte ich klar Paul heraus, der - nachdem ich den Raum betreten hatte - noch immer so aussah, als wäre er kurz davor zu platzen.
„Aber wir wissen doch nichts über sie", warf Seth kleinlaut dazwischen und senkte sofort den Kopf, als Paul ihm einen vernichtenden Blick zuwarf. Mich beschlich ein ungutes Gefühl, während ich unauffällig an Liams Seite schlich. Als ich bei ihm ankam, legte er sofort einen Arm um meine Taille, doch seine Aufmerksamkeit galt weiterhin Paul.
„Sie war auf dem Gebiet der Cullens! Wollen wir wirklich wegen einer unbekannten Wölfin einen Vertragsbruch mit den Blutsaugern riskieren?!" Ich zuckte bei Pauls Worten heftig zusammen. Na, dass hatte ja nicht lange gedauert, dachte ich, in Erinnerung an gestern. Bei diesem Streit zwischen den Rudelmitgliedern ging es offensichtlich um mich. Man hatte ich Mist gebaut.
Vorsichtig machte ich einen Schritt nach vorn. „Was ist, wenn sie die Regeln nicht kennt?", mischte ich mich ein und zog damit alle Blicke, der anwesenden Wölfe auf mich.
„Das ist durchaus möglich", stimmte Sam, der Paul beruhigend eine Hand auf die Schulter gelegt hatte, zu. „Aber, wie Paul bereits deutlich gemacht hat, können wir allmählich kein Risiko mehr eingehen. Es geht nicht nur um uns, sondern auch um die Sicherheit des Stammes." Auf einmal wirkte Sam viel älter auf mich. Sorgenfalten zierten seine Stirn und Kummer spiegelten sich in seinen Augen wieder.
„Aber Sam, wir können doch mit den Cullens reden. Vielleicht verstehen sie..." Noch bevor Liam seinen Satz beenden kann, fährt sein Bruder aufgebracht dazwischen. „Nein, Liam! Wir werden das ein für alle Mal klären. Ich werde noch den Rest des Rudels zusammen trommeln und dann beginnt die Jagd."
„Jagd?!", piepste ich und zog den Kopf ein. Ich hatte ja mit vielem gerechnet, aber dass meine Lage inzwischen so ernst war, hätte ich nie gedacht. Hastig warf ich einen Blick über meine Schulter zu Liam. Er sah nicht glücklich aus, aber spätestens, als Sam mit seiner Alpha-Stimme: „Keine Wiederrede" donnerte, wusste ich, dass es für uns keinen Ausweg mehr gab.
Ich seufzte und ließ meine Schultern sinken. Normalerweise ließ mich Sams Anführer-Gehabe kalt und auch heute beeindruckte es mich nicht sonderlich, aber ich wusste dennoch, wann es Zeit wurde sich geschlagen zu geben. Ich mochte meine Freiheit – mehr als alles andere, doch noch viel wichtiger waren mir in den letzten Monaten diese Menschen geworden. Ich beschloss, dass es Zeit wurde, die Lügen hinter mir zu lassen und ihnen endlich die Wahrheit zu sagen.
„Warte Sam", flüsterte ich mit erstickter Stimme. Es fühlte sich an, als hätte ich einen Kloß im Hals, der es mir beinahe unmöglich machte, die nächsten Worte auszusprechen. „Ihr müsst das nicht tun."
„Ach Val", seufzte Sam. „Du verstehst das einfach nicht."
„Aber ich...", setzte ich an, wurde jedoch erneut von ihm unterbrochen. „Du bist einfach kein Teil von dieser Welt."
Autsch. Ich zuckte zurück. Der Schlag hatte aber gesessen. Plötzlich – gerade, als ich es mir doch anders überlegen wollte, schob sich eine warme Hand in meine und drückte diese fest. Ich brauchte nicht hinter mich zu sehen, um zu wissen, dass es Liam war, der mir den Rücken stärkte. Ich holte tief Luft und sah mich noch einmal in der Küche um, sah jeden einzeln nacheinander an. Erst Sam, dann Emily, Paul, Seth, Jared, Jakob und zuletzt noch einmal Liam, dessen Liebe mich dazu brachte, mich aufrecht hinzustellen und mich direkt vor den anderen aufzubauen. „Sam!", sprach ich den Alpha des Rudels direkt und mit fester Stimme an. „Du braucht nicht nach dieser Wölfin suchen, weil..." Ich verbannte das Zittern aus meinen Körper und ignorierte meinen pochenden Herzschlag. „Weil sie direkt vor dir steht. Ich bin diese Wölfin!"    

MondgeheulWo Geschichten leben. Entdecke jetzt