63

187 6 1
                                    

Seit jenem schicksalhaften Kuss waren zwei Tage vergangen. Zwei Tage, in denen ich Liam aus dem Weg gegangen war, da ich nicht wusste, wie ich auf ihn reagieren sollte. Zwei Tage, in denen ich mich während der Pausen allein in der Schulbibliothek verschanzte und erst wieder herauskam, als es bereits zu Stunde klingelte oder Olivia mir grünes Licht gab. Ich lebte also auf der Flucht. Obwohl konnte man meinen Zustand überhaupt als „leben" bezeichnen? Achtzig Prozent des Tages verbrachte ich nämlich mittlerweile damit ausdruckslos Löcher in die Luft zu starren und meinen eigenen Gedanken nachzuhängen. Ich konnte nichts dagegen tun. Es geschah einfach. So wie auch heute.
Eben war ich noch dabei gewesen Liv's Ausführungen über eines der neuen Gerüchte unserer Schule zu verfolgen, als mein Geist plötzlich abdriftete.
Ich befand mich wieder in dem dunklen Wald – zusammen mit Liam. Es war kurz nach dem Kuss und wir beide hatten uns einfach nur tief in die Augen gesehen. Was im Nachhinein ziemlich kitschig klang, aber tatsächlich so war.
Danach hatte er mich Nachhause begleitet. Wir beide hatten die meiste Zeit geschwiegen und kaum mehr als zwei Worte gewechselt. Ich erinnerte mich noch an die Enttäuschung, die ich an diesem Abend gespürt hatte, als wir schließlich vor meinem Haus standen. Ich hatte nicht gehen wollen. Ich hatte seine Hand nehmen wollen, um sie nie wieder loszulassen. Und trotzdem war ich diejenige gewesen, die sich zuerst umgedreht hatte.
Dennoch hatte diese Nacht nicht auf diese Weise geendet – nicht still und unbedeutend. Es war Liam gewesen, der ihr neben dem Kuss eine durchaus größere Bedeutung verliehen hatte. Eine, die bis jetzt mein Herz noch höher schlagen ließ. „Dein Geheimnis ist bei mir sicher. Du kannst mir vertrauen."
...Und dann...war er gegangen und hatte mich allein mit meinen Gefühlen zurückgelassen.

„Huhu!", riss mich Liv's Stimme aus meinen Gedanken, während sie wild mit ihren Fingern vor meinem Gesicht herum schnipste. „Erde an Valerie. Bitte auf Empfang stellen."
Ich zuckte zusammen und lächelte unbeholfen. „Tut mir leid, es ist schon wieder passiert."
„Das hab ich bemerkt, aber sag' mal, ist wirklich alles okay? Willst du mir nicht sagen, was dich so sehr beschäftigt."
Stimmt. Bisher hatte ich Olivia noch nichts von mir oder Liam erzählt. Ich hatte es ihr einfach nicht erzählen können, da ich selber noch nicht einmal verstand, was genau da zwischen uns war. Ich seufzte tief. „Es ist alles in Ordnung. Ich erzähle es dir ein andermal okay?"
„Geht klar", willigte meine beste Freundin sofort ein und dafür liebte ich sie. Dass sie nicht weiter nachhakte, sondern meinen Zustand vorerst so hinnahm. „Aber es wäre schön, wenn du dich langsam entscheiden könntest, was du essen willst, denn die anderen hinter uns werden langsam ungeduldig." Damit deutete sie zuerst auf die endlos lange Schlange hinter uns und dann auf die Glasscheibe der Theke vor uns, hinter der noch immer feinsäuberlich verschiedene belegte Baguettes aufgebahrt waren. Bis vor kurzem hatte ich noch einen Mordshunger gehabt und alles für ein Schnitzelbrötchen gegeben, aber nun war mir der Hunger verhangen. Mir war übel und meine Kehle fühlte sich vollkommen ausgetrocknet an. Deshalb murmelte ich nur „Hab' keinen Hunger", bestellte mir eine eisgekühlte Cola und machte mich dann auf den Weg zu unserem Stammtisch.
An diesem saßen bereits Clarissa und Anna mit denen Liv und ich einige gemeinsame Kurse belegten. Hin und wieder kam es dann dazu, dass wir zusammen Mittag aßen und uns ein wenig unterhielten. Es waren keine solch vertraulichen Themen, wie die, über die ich mit Liv redete, aber trotzdem entwickelte sich langsam eine Freundschaft zwischen uns vier Mädchen.
Olivia holte schnell auf, bis sie direkt neben mir lief. Ich spürte ihren besorgten Blick und sah die Falten, die sich auf ihrer Stirn bildeten. Dennoch hielt sie dicht und zwang sich dazu mir keine Fragen zu stellen, die ich noch nicht bereit war zu antworten.
Ich zwang mich zu einem kleinen Lächeln, als ich den Kopf zu ihr drehte. „Keine Sorge, Livi. Ich komm schon klar."
„Du stehst einfach so neben dir", seufzte sie betrübt, ehe sie ihr Tablett auf den Tisch abstellte und die anderen begrüßte.
Ich ließ die Schultern hängen. Sie hatte ja recht. Ich war wirklich nicht mehr ich selbst. Ich aß nicht mehr richtig, passte nicht wirklich auf und von meinem Schlafrhythmus wollte ich gar nicht erst reden. „Ach, ich weiß doch auch nicht. Es ist einfach", setzte ich an, als sich plötzlich ein Arm um meine Taille schlang und mich herumwirbelte. Kurz darauf wurde ich fest an eine Brust gedrückt und ein vertrauter Geruch umhüllte mich.
„Liam", keuchte ich überrascht, als ich ihn erkannte. Kurz darauf versuchte ich ihn von mir zu drücken. Vergebens. Seine Arme hatten sich zwar sanft, doch unnachgiebig wie Gitterstäbe um mich gelegt.
„Läufst du vor mir davon?", war alles, was er sagte. Seine Stimme war ein raues Flüstern und sein ganzer Körper war angespannt. Er war sauer.
Ein weiteres Mal probierte ich ihn von mir zu schieben. „Ich..."
„Versuch gar nicht erst, mich anzulügen. Jedes Mal, wenn du das macht, beißt du dir vorher auf die Lippe."
Ich biss die Zähne zusammen und versuchte den Impuls mir tatsächlich auf die Unterlippe zu beißen zu unterdrücken. „Gar nicht wahr!"
Nun gab Liam doch ein kleines Stück nach. Allerdings nur, um mir direkt in die Augen zu sehen. „Doch wahr."
Ich funkelte in böse an. „Gar nicht..."
Ein ernster Blick von ihm ließ mich mitten im Satz verstummen. Er schien wirklich verärgert über mein Verhalten. Also gab ich meinen Widerstand auf und ließ die Schultern hängen. „Okay, ich geb's zu. Ich wusste nicht, wie ich mich nach alldem dir gegenüber verhalten sollte." So nun war die Wahrheit raus. Ich hatte mir tatsächlich die ganze Zeit darüber den Kopf zerbrochen, was da zwischen uns war. Was wir einander eigentlich bedeuteten und ob es überhaupt an Wir gab?
Liam musterte mich eindringlich und schien nahezu so, als wisse er, was in meinem Kopf vorging. Ob es ihm vielleicht ähnlich ging?
Noch während die Frage durch meine Gedanken geisterte, beugte sich Liam plötzlich zu mir herunter und legte mir ein Hand an die Wange. Dann versiegelte er auch schon meinem Mund mit seinem. Ein aufgeregtes Kribbeln breitete sich in meinem Bauch aus. Überrumpelt riss ich die Augen auf und starrte ihn an, nicht in der Lage mich zu bewegen. Ein Raunen ging durch den Speisesaal und ich spürte, wie sich sämtliche Blicke der anwesenden Schüler auf uns legten.
Und dann ging auf einmal ein Ruck durch mich und ich dachte mir „Scheiß drauf", bevor ich meinerseits meine Arme um seinen Hals schlang, die Augen schloss und ihn zurück küsste.
Liam begann an meinem Mund zu grinsen, dennoch dauerte es noch eine Weile bis er sich von mir löste. „Genau so möchte ich, dass sich meine Freundin verhält. Sie soll nur Augen für mich haben."
Er gab mir noch einmal einen kurzen Kuss, ehe er sich zu den anderen Schülern umdrehte und sie böse anfunkelte. „Was gibt's denn da zu glotzen?!"
Ich für meinen Teil hatte den Rest der Welt um uns herum schon vollkommen vergessen. Die Bezeichnung meine Freundin hatte mir alles Blut in die Wangen getrieben. Gleichzeitig breitete sich ein warmes Gefühl in mir aus und ich fühlte mich als würde ich schweben. Ich beschloss, dass ich diese zwei Worte fortan jeden Tag mindestens einmal hören musste, um glücklich zu sein.
„M-Mo-Moment mal! Freundin? Wann ist das denn passiert?!", schaltete sich Liv auf einmal wieder ein. Ihr Mund stand sperrangelweit offen und ihr Gesichtsausdruck war zum Schießen. Ich konnte gar nicht anders konnte, als sie breit anzulächeln und den Finger zu heben, um ihre Kinnlade wieder hoch zu drücken. „Das ist eine lange Geschichte."    

~

Oh man, was soll ich sagen. Da bin ich wieder... nach einer halben Ewigkeit.
Leider ohne Ausrede. Ich kann euch nur sagen, dass ich selber ziemlich sauer auf mich bin, da ich es selbst so sehr hasse, wenn ewig keine neuen Kapitel mehr erscheinen.
Also bekommt ihr von mir nur ein ehrlich gemeintes "Tut mir wirklich leid" und "Danke", dass an die geht, die gewartet haben, bis es weitergeht und nun weiterlesen. :*

Zoey

MondgeheulWo Geschichten leben. Entdecke jetzt