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An demselben Nachmittag entführte mich Liam nach der Schule zum Strand von La Push. Wir hatten es uns mit mehreren Decken auf einem der Felsen bequem gemacht. Wir konnten von Glück sprechen, dass Werwölfe nicht froren, denn sonst hätten wir uns hier draußen bestimmt den Tod geholt.
So aber saßen wir eng aneinander gekuschelt da und spielten mit unseren ineinander verschränkten Händen. Es war ein schöner Moment, den ich eigentlich nicht zerstören wollte. Allerdings brannte mir eine Frage auf den Lippen, die ich ihm unbedingt stellen musste. „Wirst du es den anderen sagen?"
Ich legte den Kopf in den Nacken, um ihn besser sehen zu können. Für einen Moment sah er mich an, dann wanderte sein Blick hinaus auf das Meer. „Sie sind mein Rudel, meine Familie..."
Ich stieß die Luft aus die ich angehalten hatte, nickte jedoch verständnisvoll. „Das verstehe ich, aber..."
„Aber du hättest gerne noch mehr Zeit", vollendete er meinen Satz und traf damit genau ins Schwarze. Ich bewunderte es jedes Mal, wie gut er meine Gefühle nachzuvollziehen konnte. „Woher weißt du nur immer, was mich beschäftigt?", murmelte ich mehr zu mir selbst, als zu ihm und lehnte meinen Kopf an seine Schulter.
Ein zärtliches Lächeln erschien auf Liam's Gesicht, ehe er mir einen Kuss auf die Stirn drückte. „Das ist nicht schwer. Dein Gesicht verrät mir alles, was ich wissen muss. Außerdem kann ich mir vorstellen, wie es ist ein Leben lang eine einsame Wölfin gewesen zu sein und plötzlich kurz davor zu stehen Fesseln angelegt zu bekommen."
Ich hob überrascht über seine Ausdrucksweise den Kopf und musterte ihn. „Fesseln?", hakte ich dann nach.
Liam nickte. „Manchmal fühlt es sich für mich so an. Sams Regeln grenzen die eigene Freiheit ziemlich ein, weißt du?" Es verwunderte mich, dass Liam so über seinen Bruder dachte. Ich hatte zwar gewusst, dass es ihm nicht gefiel, wie Sam ihn ab und an rumkommandierte, aber das er so empfand, war mir neu. Obwohl, wenn ich ehrlich war, hatte ich tief im Inneren gespürt, dass ihn irgendetwas bedrückte. Und auch jetzt spürte ich dieses Gefühl, welches sich von ihn auf mich übertrug und mein Herz schmerzhaft zusammenpresste.
Mit einem traurigen Lächeln legte ich ihm eine Hand auf die Wange. „Dann lass dir doch keine Zwänge auferlegen."
Liam lachte bitter und zog seinen Kopf zurück, sodass meine Hand schlaff zurück an meine Seite fiel. „Wenn es nur so einfach wäre, Valerie. Aber Sam ist der Alpha."
Alpha. Für mich war dies immer nur ein Wort gewesen, aber allmählich begann ich die Bedeutung dahinter zu verstehen. „Wie wird man eigentlich zum Alpha?"
Für einen Augenblick schwieg Liam wieder, ehe er mir die Antwort lieferte. „Es liegt in deinen Genen. Tatsächlich wird man zum Anführer geboren." Er lachte. „Lustig, nicht wahr?"
Mir war überhaupt nicht zum Lachen zumute, weshalb ich daraufhin nur erwiderte. „Ich weiß nicht so recht."
Dann wurde es wieder still um uns herum. Das einzige Geräusch bildete das Rauschen der Wellen vor unseren Augen und das leise Flüstern des eisigen Windes über unseren Köpfen.
„Liam, du hast gesagt, dass es in den Genen liegt. Aber du und Sam seid Brüder. Heißt das dann nicht, dass du auch dieses Gen in dir trägst?" Ich kannte die Antwort, sobald ich meine Frage zu Ende gestellt hatte. „ Warum bist du nicht der Alpha geworden, Liam?"
Der Uley-Junge seufzte und rieb sich müde über die Augen. „Es ist nun mal das Recht des Älteren. Ich habe Sam - genau wie Jake - den Posten überlassen, da ich weder meine Familie noch das Rudel entzweien wollte."
Das klang einleuchtend und verdammt weise. Zu weise, um ihm darauf eine entsprechende Antwort zu geben. Deshalb murmelte ich nur etwas in Richtung „Trotzdem musst du dir nicht alles gefallen lassen", ehe ich meinen Blick wieder von ihm abwendete und grimmig geradeaus starrte.
Auf einmal spürte ich, wie sich Arme von hinten um mich legte und mich fest an eine starke Brust zogen. „Keine Sorge, ich kann schon auf mich selbst aufpassen, mon coeur."
„Naja für die wichtigen Dinge hast du ja mich", scherzte ich ohne ihn anzusehen. Aber schnelle wurde ich wieder ernst. „Zumindest auf dein Herz werde ich vorerst aufpassen." Mit diesen Worten drehte ich mich hastig zu ihm um und drückte ihm einen flüchtigen Kuss auf die Lippen. Sofort begannen meinen Wangen zu glühen und ich konnte nicht anders, als beschämt auf meine Füße zu starren.
„Was war das denn?", fragte Liam und ich konnte das Grinsen in seine Stimme beinahe hören.
„Nichts", knurrte ich und hätte mir am liebsten ein Loch gegraben. Wieso hatte ich ihn auch geküsst? Ich hätte wissen müssen, dass das nichts werden könnte.
„Hey", meldete sich Liam wieder. Der Schalk war aus seiner Stimme verschwunden. „Sieh mich mal an."
Ich dachte gar nicht daran! Stattdessen schob ich meine Unterlippe nach vorn und schmollte. Genauso, wie es eine echte Kriegerin in solch eine Situation getan hätte.
„Valerie."
„Mh...mh", schüttelte ich mit dem Kopf und hielt meinen Blick stur auf den Boden vor meinen Füßen gerichtet. Gott, war das peinlich.
„Sonst bist du doch auch nicht so zurückhaltend."
„Klappe", schnappte ich bissig zurück. Kaum vier Sekunden später, verschwand der Halt, den mir seine Schulter geboten hatte und ich kippte ungebremst zur Seite.
Als ich das nächste Mal meine Augen öffnete, war Liam bereits über mir und grinste mich breit an. „Ich zeig' dir jetzt mal, wie das geht, Moore", meinte er und beugte sich langsam zu mir herunter.
„Du bist so ein Idiot, Uley", erwiderte ich mit klopfendem Herzen, ehe ich meine Arme um seinen Hals schlang und den letzten Abstand zwischen uns überbrückte.

MondgeheulWo Geschichten leben. Entdecke jetzt