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„Ich bin diese Wölfin"
Für den Bruchteil einer Sekunde hing der Satz stillschweigend in der Luft. Dann begannen, die anderen allmählich seine Bedeutung zu verstehen und starrten mich ungläubig an.
„D-Du verarscht uns doch!", sprach Paul vermutlich das aus, was alle dachten. Seine Hände waren zu Fäusten geballt und die Wut und Abscheu stand förmlich in sein Gesicht geschrieben. Ich hatte eigentlich mit allem gerechnet, ob Wut oder Hass und trotzdem fühlte sich der Ausdruck in Pauls Augen an, wie ein Schlag ins Gesicht. Dabei stand ich ihm noch nicht einmal so nahe, wie Einigen der anderen Rudelmitglieder.
„Denkst du, ich mache darüber Witze?!", schnaubte ich aufgebracht und versuchte trotz der Spannung im Raum stark zu bleiben, um mir meine Schwäche nicht anmerken zu lassen. Aber es war nicht gerade einfach. Es tat weh, dass sie mich alle ansahen, als hätte ich sie hintergangen und direkt ans Messer geliefert – selbst in Seths Augen konnte ich nichts, als Enttäuschung lesen. Ich schluckte hart.
Trotzdem merkte ich im nächsten Moment, dass mir die Enttäuschung viel lieber war als der Zorn, der sich nun in Form von Paul bedrohlich vor mir aufbaute. „Was hast du dir nur dabei gedacht?" Er trat einen Schritt auf mich zu, am ganzen Körper zitternd und bereit alles zu tun, wenn ich nur eine falsche Entscheidung traf. Ich wusste, würde ich mich ihm jetzt entgegen stellen, würde es zu einem Kampf kommen und das wollte ich um jeden Preis vermeiden – vor allem, da ich mir sicher war, dass Liam sich einmischen und damit mich ein weiteres Mal über sein Rudel stellen würde. Mein Verhalten hatte ohnehin schon genug Schaden angerichtet, noch einmal würde ich das nicht zu lassen.
Während Paul mir also immer näher kam, wich ich immer weiter zurück und ließ mich von ihm durch den Raum jagen. „Paul, h-hör mir zu", stotterte ich, inzwischen wieder beinahe neben Liam angekommen, aber der Quileute-Junge hörte mich gar nicht. Der Wolf in mir winselte, weil er sich in die Enge getrieben fühlte.
„Weißt du in was für eine Gefahr du uns alle gebracht hast?!" Ich sah nur aus dem Augenwinkel, wie seine Hand noch oben schnellte und nach meine Kehle greifen wollte. In letzter Sekunde wurde sie jedoch abgefangen. Liam, der sich bisher beherrscht im Hintergrund gehalten hatte, schob sich nun direkt vor mich. „Wag' es nicht sie anzufassen", knurrte er dann Paul an, seine Handgelenk noch immer fest im Griff und warf ihm einen vernichtenden Blick zu.
„Lass mich los", zischte Paul daraufhin nur und versuchte mich über Liams Schulter hinweg ins Visier zu nehmen. Unwillkürlich machte ich mich kleiner.
Plötzlich war ein lautes Reißen zu vernehmen, gefolgt von Knurren, dann ging alles ganz schnell. Sam, der bisher dem Geschehen nur stillschweigend zugesehen hatte, schob sich nun blitzschnell zwischen die Beiden und brüllte: „Raus hier!"
Doch weder Paul noch Liam schienen ihrem Alpha auch nur die geringste Beachtung zu schenken. Allmählich bekam ich es mit der Angst zu tun, was, wenn sie nun meinetwegen in einen Kampf gerieten, wenn mein Geheimnis einen Keil zwischen sie trieb. Verdammt sie waren ein Rudel, eine Familie, wenn einer verletzt werden sollte, dann wäre ich das.
„Embry, Quill!", rief Sam nach den anderen Wölfen. Seine Alphastimme vibrierte in meinen Knochen wieder, mächtig und unnachgiebig, weshalb es mich nicht wunderte, dass die Beiden sofort zur Stelle waren. „Bringt sie raus."

Ein Befehl und ein Handgemenge später hatten Embry und Quill, Paul und Liam dann aus dem Zimmer gedrängt und sie durch die Verandatür nach draußen befördert. Währenddessen hatte ich nichts anderes tun können, als stumm dazustehen und ihnen nur zuzusehen.
Als nun aber wieder Stille in den Raum kehrte, begann ich die Ausmaße meines Handels zu verstehen und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. Tränen brannten in meinen Augen, als ich mit erstickter Stimme flüsterte: „Das ist alles meine Schuld." Ich sah auf zu den verbliebenen Rudelmitgliedern, die noch immer einen beträchtlichen Abstand zu mir hielten und mich eingehend musterten. „Es tut mir leid."
Niemand sagte etwas zu meiner Entschuldigung. Insgesamt sagte niemand irgendetwas. Sie alle schwiegen und schienen darauf zu warten, was als Nächstes geschah.
Letztendlich war es nicht Sam, sondern Jacob, der als Erster wieder das Wort ergriff: „Wir können ja verstehen, dass du es inzwischen bereust uns angelogen zu haben." Ich zuckte bei dem Klang seiner Worte zusammen. Er hatte recht. Ich hatte sie belogen und eben diese Gewissheit fügte mir im Moment unendlichen Schmerz zu. „Was wir aber nicht verstehen", fuhr er fort, „ist warum du es uns nicht erzählt hast. Ich meine du wusstest, was wir waren. Du wusstest, dass wir gleich waren und du wusstest, dass wir nach dir suchten."
Ich schluckte hart in dem Versuch, den Klos der noch immer in meinem Hals steckte, loszuwerden. Was sollte ich darauf jetzt erwidern? Seine Argumentation war logisch und mittlerweile fand ich mein Benehmen ebenfalls vollkommen egoistisch.
„Valerie, weißt du in was für eine missliche Lage du unsere Rudel gebracht hast? Und in welcher Gefahr unser Stamm wegen dir hätte schweben können?", mischte sich nun Sam ein und trat mit verschränkten Armen vor mich. Sein Blick zeigte nichts mehr von der einstigen Sympathie, die ich geglaubt hatte von ihm zu bekommen. Nun waren seine Augen ernst und seine Züge streng. Für ihn schien ich nun nicht mehr dieselbe zu sein. Ich war nun kein Mensch mehr, den es zu beschützen galt. Nun – nach meiner Enthüllung – war ich nur noch die Wölfin, die ihnen allen Schwierigkeiten bereitet hatte.
„Kannst du uns dein Verhalten erklären?" Überrascht sah ich zu Liams älteren Bruder auf. Hatte er mir tatsächlich die Chance geboten mein Verhalten zu rechtfertigen?
„I-Ich", stotterte ich hastig und fiel dabei beinahe über die zahlreichen Gründe, die mich bis vor kurzem dazu gebracht hatten, mein Geheimnis für mich zu bewahren. Ich atmete tief durch, um mich besser zu konzentrieren, ehe ich damit begann dem ganzen Rudel meine Gefühlswelt zu offenbaren. „Ich weiß, dass ihr nicht versteht, warum ich so egoistisch war und euch nichts von mir erzählt habe. Ich weiß auch selbst, dass es falsch war dies nicht zu tun, aber wisst ihr – ich war mein ganzes Leben lang allein. Es gab niemanden, der so war wie ich und ich musste lernen alleine mit dieser anderen Seite in mir zu leben. Als es das erste Mal geschah, dachte ich, ich wäre verflucht – ein Monster, das nicht zu dieser Welt gehören sollte. Erst später fand ich mehr über mich heraus, indem ich alte Legenden verschiedener Indianerstämme las. Trotzdem blieb ich nur für mich und verbarg mein Geheimnis tief in meinen Inneren. Ich denke, dass ich – als ich euch dann begegnet war – es noch immer für mich behielt, weil ich es selbst nicht akzeptieren konnte. Für mich war der Wolf nie ein Teil von mir gewesen, sondern eine andere Hälfte, die jedoch nicht zu mir gehörte. Ich denke, ich hatte einfach Angst davor endlich einzusehen, was ich tatsächlich war."
„Aber was hat sich jetzt geändert?", mischte sich Seth ein und trat auf mich zu. Er war der einzige, der mir tatsächlich näher kam und in dessen Augen ich nun, da er mir eine Hand auf die Schulter legte, einen Funken Verständnis erkennen konnte.
Ich überlegte kurz hin und her. Ich selber hatte mir bisher noch keine Gedanken darüber gemacht, aber nun begann ich mich selbst zu fragen, ab wann ich begonnen hatte mich zu akzeptieren. Und dann wurde es mir klar. „Seitdem ich Liam näher gekommen bin", antwortete ich schließlich. Mein Blick wanderte unwillkürlich zu der Tür hinter der er verschwunden war und wurde weich. „Er hat mir das nötige Vertrauen und die Liebe gegeben, die mir fehlten, um all das..." Ich deutete an mir herab. „...zu verstehen und mich so zu nehmen, wie ich bin. Nur durch ihn habe ich jetzt den Mut vor euch zu stehen."
„Und trotzdem ist er ein Verräter", knurrte Jared und sprang so schnell auf, dass der Stuhl auf dem er saß, umfiel und auf dem Boden zerschellte.
„Woah!", schrie plötzlich Leah auf, die eben den Raum betreten hatte und gerade noch so dem Stuhl ausgewichen war. Mit großen Augen sah sie sich nun in Emilys Küche um. „Was geht denn hier ab?"
Als keine von den anderen Anstalten machte etwas zu sagen, fasste sich ihr Bruder schließlich ein Herz und fasste die letzten Geschehnisse für seine Schwester zusammen. Sobald er damit jedoch fertig war, kehrte die Stille wieder zurück. Unruhig kratzte die Wölfin an meinem Geist. Der Drang einfach zu flüchten war riesig und dennoch zwang ich mich an Ort und Stelle stehen zu bleiben und nun auch noch ihre Reaktion abzuwarten. Ich war viel zu lange geflohen, hatte mich viel zu langer vor allen versteckt. Es wurde Zeit, dass ich mich den Konsequenzen meines Handels stellte.
Also reckte ich das Kinn in die Höhe und blickte Lea in die Augen. Noch immer zeigte sich keine Regung in ihren Zügen, selbst als sie auf mich zukam und vor mir stand, konnte ich darin keinerlei Gefühle lesen. Und dann schlang sie plötzlich einen Arm um meine Schultern und begann lauthals zu lachen. „Und ich dachte schon ich wäre die Einzige! Gut zu wissen, dass es doch noch andere gibt", sagte sie, drückte mir einen Kuss auf die Wange und strahlte mich an.
Zu verblüfft von ihrer Reaktion, war ich erst einmal sprachlos und starrte sie an. Nachdem die anderen so abweisend auf mich reagiert hatten, hatte ich eigentlich dieselbe Reaktion von ihr erwartet. Das sie sich nun – anstatt mir Vorwürfe zu machen – auch noch freute, riss mich jedoch vollkommen aus der Bahn.
„Schön zu wissen, dass noch jemand auf unserer Seite steht", grinste Liam. Er und die anderen waren vollkommen lautlos wieder hereingekommen. Offensichtlich hatten sich die Wogen zwischen ihm und Paul wieder geglättet, denn er verpasste Paul einen freundschaftlichen Stoß gegen die Schulter, ehe er zu mir und Leah kam.
Diese klopfte sich nun kichernd auf die Brust. „TeamValerie forever!"
Unwillkürlich musste ich über ihre unverblümte Art Lachen und auch Liam schmunzelte, während er die Arme um mich schlang. Ich war ihr unglaublich dankbar, dass sie die Lage ein wenig entschärft und mir damit neuen Mut gegeben hatte.

„Da wir nun vollzählig sind, können wir nun abstimmen", mischte sich Sam nun wieder ein und machte damit den kurzen Moment der Ausgelassenheit wieder zunichte.
„Abstimmen?!", knurrte Liam und spannte sich sofort wieder an. Er sah so aus, als würde er seinem Bruder jeden Augenblick den Kopf abreisen. „Worüber wollt ihr denn bitte abstimmen?!"
Liams Wut war zum Greifen nah und auch sein Wolf lauerte dicht unter seiner Oberfläche und trotzdem blieben Sams Augen kalt und unberührt, als er sagte: „Wir stimmen jetzt darüber ab, ob Valerie bleiben darf oder ob sie für immer aus dem Reservat verbannt wird."
Keuchend stieß ich die Luft aus und mein Blick flog zu Liam, der ebenso geschockt aussah, wie ich. Im Gegensatz zu mir hielt er seine Gefühle allerdings nicht zurück, sondern machte sie allen offen kund. Hatte er in dem einen Moment noch neben mir gestanden, hatte er seinen Bruder im nächsten Augenblick bereits zu gegen die Wand gedrückt. „Valerie wird bleiben!", knurrte er bedrohlich.
Sam zuckte noch nicht einmal mit der Wimper. „Wenn das Rudel sich dafür ausspricht...und jetzt lass mich los oder ich vergesse, dass du mein kleiner Bruder bist!"
Ich sah, wie Liams Kiefermuskeln malten. Er rang mit sich, focht einen Kampf in seinem Inneren aus. Ich oder sein Rudel. Eine Frage, die sich ein Werwolf niemals stellen sollte. Eine Frage, die sich Liam vor allem nicht meinetwegen stellen sollte, weswegen ich ergeben den Kopf senkte und murmelte: „Stimmt bitte ab..."
Ein Stuhl schabte über den Holzboden. Dann erhob sich Jakob und blickte ernst in die Runde. „Wer ist dafür, dass Valerie verbannt wird?" Ich presste die Lippen zusammen und wartete darauf, dass sie die Hände hoben.

~

So da melde ich mich mal wieder aus der Versenkung zurück. ^^'
Ich hoffe ich habt das Warten ausgehalten.
Was meint ihr, wie die Abstimmung verlaufen wird? Oder gibt es vielleicht eine unerwartete Wendung? :)

gezeichnet
- Z.

MondgeheulWo Geschichten leben. Entdecke jetzt