Es war ein seltsames Gefühl denselben Weg zurückzulaufen, welchen ich gestern genommen hatte um der Party zu entfliehen. Zwar war es dunkel gewesen, aber ebenso gut wie meine Füße erinnerten sich meine Augen an die Abstände der Bäume oder an die Löcher in der Erde.
Circa fünfzehn Minuten später gruben sich meine Schuhe in den weichen Sand. Vor uns lag das Meer.
"Wunderschön", staunte Leon und riss sich von meiner Hand los.
"Geh' aber nicht ins Wasser, das ist kalt", warnte ich ihn. Man konnte ja nie ahnen, was der kleine Wildfang so vorhatte. Allerdings schien er dieses Mal auf mich zu hören, denn er blieb tatsächlich etwas Abseits des Gewässers stehen.
Zufrieden lächelnd tat ich einige Schritte und fand schließlich eine Sitzgelegenheit. In diesem Fall war es ein großer Fels.
Leon weiterhin im Auge behaltend, zog ich das Tuch meiner Mutter von meinem Hals und breitete es über dem grauen Gestein aus. Anschließend nahm ich Platz und beobachtete stillschweigend meinen Bruder.
Dafür, dass der Kleine noch ziemlich jung war, wusste er sich gut zu beschäftigen. So kehrte er nach wenigen Augenblicken zurück an meine Seite und setzte sich in den Sand. Dort begann er dann mit seinen Händen einen Haufen zu bauen.
"Was wird das?", fragte ich interessiert nach, obwohl mir eigentlich klar war, was er da baute.
Leon grinste mich an und verkündete stolz. „Eine Ritterburg."
Ritter. Das schien im Moment sein Ding zu sein. Von seinem Schlafzimmer bis hin zu seinen Sachen drehte sich alles darum. „Muss Sir Leon Löwenherz wieder gegen den Drachen kämpfen?"
Voller Ernst nickte mir mein Bruder zu: „Ja, zusammen mit seinen Freunden."
Mit seinen Freunden. Bei diesem Worten wurde mir richtig warm ums Herz. Egal von welcher Seite man ihn auch betrachtete man musste Leon einfach lieben.
"Na dann, lass uns die größte Burg bauen, die der Drache je gesehen hat!" Damit fiel ich neben meinen Bruder auf die Knie und begann unter seine Anweisung Türme, Brücken und Mauern zu formen.
Die Burg war gerade erst fertig, als Leon plötzlich an dem Stoff meines T-Shirts zog. Verwirrt runzelte ich die Stirn und schaute ihn an: „Was ist?"
"V, was macht der Mann da?" Der Finger meines Bruders deutete in die Ferne. Genauer gesagt auf einen Felsvorsprung, der sich schätzungsweise zwanzig Meter über den Meeresspiegel erhob. Ich kniff die Augen zusammen, um genaueres zu erkennen.
"Oh mein Gott", keuchte ich auf, als ich besagte Person schließlich entdeckte. Direkt am Rand der Klippe stand ein einzelner Junge, der bis auf eine Hose nichts weiter an hatte. Der will doch nicht springen!
Wie von allein war ich aufgesprungen und zum Ufer gerannt. Lass das!, wollte ich dem Jungen zurufen, aber da war es schon zu spät. In einem gewagten Kopfsprung raste er auf die Wasseroberfläche zu.
Das Ganze dauerte eventuelle zwei Sekunden. Zwei Sekunden, in denen mein Herz aussetze und ich die Augen zusammen kniff. Dann handelte ich von ganz allein.
"Du wartest hier und bewegst dich nicht von der Stelle!", schrie ich meinen Bruder und schlüpfte bereits aus meinem Oberteil. Für die Hose blieb mir keine Zeit mehr, weshalb ich mich einfach mit ihr in die Fluten war.
Auf der Stelle sog sie sich mit dem eiskalten Wasser voll und zog mich leicht nach unten. Den dadurch entstehenden Widerstand und die Kälte ignorierend schwamm ich mit großen Zügen auf die Eintrittsstelle zu, aus der der Junge bisher noch nicht wieder aufgetaucht war.
Beil dich! Mach schon, spornte ich mich an, schließlich ging es hier um ein Menschenleben. Was dachte sich dieser Vollidiot auch?! Wollte der sich wirklich umbringen?!
Wenige Meter vor dem Punkt, an welchem ihn das Wasser verschlungen hatte, tauchte ich unter und öffnete die Augen.
Unter der Oberfläche war es dunkel, sodass ich kaum etwas erkennen konnte. Trotzdem schwamm ich weiter, tiefer und blickte mich in alle Richtungen um. Hier musste er doch irgendwo sein.
Bitte lass' in noch nicht tot sein, flehte ich, während ich kurz auftauchte, um kurz neuen Sauerstoff in meine Lungen zu lassen. Dann tauchte ich ein weiteres Mal unter.
Gerade, als ich ein weiteres Mal an die Oberfläche dringen wollte, schlang sich etwas Festes um meine Taille und beförderte mich um einiges schneller nach oben. Ein überraschter Aufschrei entwich mir. Als folge dessen strömte Wasser in meine Lungen, sodass ich an der Luft erst einmal einen Hustanfall bekam.
"Alles okay bei dir?", drang eine männliche Stimme an mein Ohr. Konnte das sein? War er das?
Mit geschlossenen Augen schüttelte ich den Kopf, bemüht den Zorn in mir zu unterdrücken. „Ob bei mir alles okay ist? Bei mir?! Wer ist denn hier todesmutig von einem Felsen gesprungen?!" Wütend fuhr ich zu dem Jungen herum und erstarrte.
Der Arm um meine Mitte gehörte zu niemand geringerem als Liam Uley. „Du?", zischte ich und kämpfte mich auf der Stelle von ihm los.
Ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen, schwamm ich zurück zum Strand. Ihm schien es ja ausgezeichnet zu gehen. Kein Grund sich weiter zu sorgen. Erst recht nicht wegen so einem Vollidioten.
"Hey Moore", rief er mir hinterher, doch ich ignorierte ihn. Wieso war ich überhaupt ins Wasser gesprungen? Hätte ich ihn doch einfach seinem Schicksal überlassen!
Mit jedem Schritt, dem ich meinen Bruder näher kam, entspannte ich mich ein wenig. An ihm dufte ich meine Gefühle gegenüber diesem Neandertaler nicht herauslassen. Erst recht nicht, als ich sah, wie ängstlich sie der Kleine an mein T-Shirt klammerte. Als wäre es ein Rettungsanker.
"Valerie!" Abrupt blieb ich stehen. Zum ersten Mal hatte Liam mich bei meinem Namen genannt. Ganz langsam – fast zeitlupenartig – drehte ich mich zu ihm herum. Zuvor legte ich allerdings noch eine Hand über meinen BH. Diese Aussicht würde ich dem Kerl niemals gönnen.
Ein wenig außer Atem blieb der Uley Junge vor mir stehen und sah auf mich herab. In seinen Augen spiegelte sich die Frage, die er eine Sekunden später laut aussprach: „Wieso warst du im Wasser?"
"Um mich ein wenig abzukühlen", schnaubte ich und wandte mich erneut zu gehen. Jedoch hinderte mich ein starker Griff um mein Handgelenk daran tatsächlich das Weite zu suchen.
"Sag' die Wahrheit", forderte Liam mich auf. Doch sollte ich ihm wirklich nachgeben? Verdiente er das überhaupt?
"Ich dachte du wärst ein suizidgefährdeter Junge, der sich vor den Augen meines kleinen Bruders das Leben nehmen will und naja, dass wollte ich nicht zulassen – selbst, wenn es sich um jemanden, wie dich handelte."
Bei meinen letzten geflüsterten Worten wanderte eine seiner Brauen in die Höhe. „Jemanden, wie mich", echote er und musterte mich eingehend.
"Ja", knurrte ich, da ich endlich von ihm weg wollte.
Komischerweise beobachtete ich, wie Liam sich seltsam beschämt am Hinterkopf kratze. „Na dann sollte ich mich wohl bei dir entschuldigen und dir danken, hm?"
Was sollte das jetzt? Wieso tat er auf einmal auf nett? Misstrauisch verschränkte ich die Arme vor der Brust. „Ja, das solltest du."
Ohne seine Entschuldigung allerdings abzuwarten, stürmte ich wieder davon. Ich musste jetzt erst einmal zu Leon.
Ganz langsam ging ich vor ihm in die Knie und legte meine Hände auf seine Schultern. In seinen blauen Augen glitzerten bereits Tränen. „Hey kleiner Löwe", sprach ich ihn sanft an und tippt ihm auf die Nase. „Es ist alles gut."
Wortlos überreichte mein Bruder mir mein Oberteil, welches ich sofort über meinen nassen BH streifte. Dann konnte ich ihn endlich in meine Arme schließen.
Keinen Herzschlag später begann er auch schon zu weinen. Hilflos streichelte ich ihm über den Rücken. Mit Situationen, wie dieser konnte meiner Mum deutlich besser umgehen, als ich. Zumal ich Leon meist nur von seiner fröhlichen Seite kannte.
"Hey kleiner Mann", begrüßte ihn Liam, der nun direkt vor mir aufgetaucht war meinen Bruder auf eine sehr sanfte Art und Weise. Was hatte er vor?
Weiterhin schniefend drehte Leon ihm das kleine Köpfchen zu. „Ja?"
"Wie heißt du?", löcherte mein eigentlicher Erzfeind ihn mit einer weiteren Frage und schaffte es so tatsächlich, dass mein Engel ganz vergaß neue Tränen aus seinen Augen kullern zu lassen.
Stattdessen kaute er nun auf seinen Daumen herum und murmelte: „Leon."
"Leon also", nickte Liam und wuschelte ihm kurz durch die Haare. „Du kannst echt stolz auf deine Schwester sein. Sie hat mich gerade gerettet."
Ich konnte deutlich erkennen, wie viel Selbstbeherrschung es von ihm abverlangte diesen Satz nicht auf der Stelle zurückzunehmen. Unwillkürlich erschien ein selbstgefälliges Grinsen auf meinen Lippen, woraufhin ich einen bösen Blick von Liam kassierte. Es sollte mir gleich sein. Diesen kleinen Sieg heute würde ich wohl nicht allzu schnell vergessen.
"V ist eine Heldin", stimmte Leon ihm nun zu, wobei seine Ärmchen sich noch ein wenig fester um meinen Hals drückten.
"Jap, das bin ich wohl", warf ich ein, ehe ich ihn in die Luft hoch riss und herum wirbelte.
Als wir nach zwanzig Minuten schließlich unser Zuhause erreichten, war nichts mehr von dem traurigen Leon übrig geblieben. An seiner Stelle stand der übliche Sonnenschein neben mir, der unserer Mutter selbstverständlich gleich von Liam erzählte. Zum Glück waren wir den schnell losgeworden, da ich vorgegeben hatte zu frieren. Obwohl eines musste ich zugeben – auch wenn er Schuld an dem ganzen Schlamassel gewesen war – er hatte mir tatsächlich mit meinem Bruder geholfen.
Schmunzelnd trat ich den Weg ins Bad an, begleitet von dem munteren Gesang meines kleinen Löwen. „V ist eine Heldin, V ist eine Heldin."
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Mondgeheul
WerewolfValerie Moore hat schon vieles in ihrem Leben durchgemacht. Als ihre Eltern jedoch auf Grund der Versetzung ihres Vaters nach La Push ziehen, bricht für sie eine Welt zusammen, denn sie muss ihr bisheriges Leben hinter sich lassen. In La Push erwart...