51

235 11 0
                                    


Das erste Mal, dass ich schreiend und schweißgebadet aus einem Alptraum erwachte, war am Morgen des 24. Dezembers. Ich hörte meine Schreie, noch bevor ich überhaupt mein volles Bewusstsein erlangte.
Kaum eine Sekunde später kam bereits meine Mutter in mein Zimmer gestürmt, die Haare noch vom Schlaf zerzaust. Sie zog mich fest in ihre Arme und streichelte mir über den Kopf, während ich versuchte in die Realität zurück zu kehren. Blut. Da war überall so viel Blut.
Ich presste die Augen zusammen, hoffte, dass die Bilder verschwanden. Aber das taten sie nicht. Schwarze Punkte begannen vor meinen Augen zu flimmern. Mein Herzschlag beschleunigte sich.
„Valerie, du musst atmen", drang die Stimme meiner Mutter, wie durch Watte an mein Ohr. „Hörst du Kleines? Atme!"
Keuchend schnappte ich nach Luft. Dann konzentrierte ich mich auf die Luft in meinen Lungen. Ein und aus. Ein und aus. Immer und immer wieder.
Einige Minuten später war die Panik aus meinen Gliedern gewichen, sodass ich mich allmählich aus den Armen meiner Mutter löste. „Es geht schon wieder. Danke Mum", murmelte ich anschließend und lehnte noch einmal für einen Moment meine Stirn gegen ihre.
Sie schloss ebenfalls die Augen. „Sicher, dass wieder alles in Ordnung ist?"
Ich nickte. „Ja, es war bloß ein Alptraum."
Aber kaum, dass sie mein Zimmer verlassen und die Tür hinter sich geschlossen hatte, wusste ich, wie falsch meine Worte doch waren. Ich hatte gelogen, denn überhaupt gar nichts war okay!
Dieser Traum war nicht normal gewesen. Dafür waren die Bilder, die immer noch in meinem Kopf spukten viel zu real. Blut. Da war überall so viel Blut gewesen. Dunkles Rot auf kaltem Braun – Erde. Ein Feld. Unweigerlich presste ich die Augen zusammen. Ich hatte auf einem Feld gestanden und in das blasse Gesicht einer zierlichen Frau geblickt, die mir beinahe bis aufs Haar glich.
Der Gedanke an dieses Bild ließ mich zurück schrecken. Hastig tastete ich mit einer Hand nach dem Schalter meiner Nachttischlampe und schaltete sie an. Kurz blendete mich das Licht, aber dann verdrängte sein warmer Schein die dunklen Schatten der Erinnerung.
„Was hat das zu bedeuten?", murmelte ich und zog meiner Beine an die Brust. An Schlaf war nun zumindest nicht mehr zu denken.
Blut... Ich schüttelte mit dem Kopf. Ein bleiche Frau... Ein Schauer jagte über meinen Rücken und verursachte eine meterdicke Gänsehaut.
Seitdem ich dem Rudel und dieser Frau begegnet war, hatte eine innere Unruhe begonnen mich zu plagen. Sie veranlasste die Wölfin dazu nervös in mir herum zu streifen und wer weiß vielleicht war sie auch Schuld daran, dass ich so etwas träumte? Das klang doch logisch, oder? Ich musste nur ein bisschen Laufen und dann verschwanden diese Bilder wieder.
Ich nickte, so musste es sein. Ohne noch länger Zeit mit Warten zu vergeuden, wählte ich die Nummer der einzigen Person, der ich wirklich vertraute.

Fünf Stunden später sahen mich zwei müde Augen vorwurfsvoll über ein silbernes Autodach an.
„Und du bist ganz sicher, dass du heute raus musst?", hakte Olivia nicht zum ersten Mal nach. Seitdem ich sie gegen ein Uhr aus dem Bett geholt hatte, stellte sie mir diese Frage.
Wie von allein glitt mein Blick zu der erst aufsteigenden Sonne, dann nickte ich ernst. „Ich muss wirklich eine Runde laufen, sonst überstehe ich die Feiertage vielleicht nicht."
„Vielleicht?", echote meine beste Freund entsetzt und rieb sich die Augen. „Aber was ist mit unserem Ausflug am zweiten Weihnachtsfeiertag?"
„Den machen wir trotzdem, aber das heute muss auch sein. Bitte Liv, du kannst ja auch im Auto schlafen, während ich unterwegs bin", flehte ich und sah sie aus großen Augen an. Ich wusste, dass ich sie damit klein bekommen würde. Und so war es schließlich auch.
Nach nur kurzem Zögern hob sie ergeben die Arme und öffnete die Tür der Fahrerseite. „Na gut, aber du schuldest mir etwas! Und wehe du beschwerst dich danach bei mir, wenn dich ein Puma zum Frühstück vernascht."
Ich kicherte, während ich ebenfalls in dem Wagen Platz nahm. „Glaub mir, wenn dann frisst ihn meine Wölfin."
„Boar Valerie!", quietschte Olivia und startete den Motor. „Hast du schon mal an den Viechern gerochen?" Erneut musste ich lachen, während Liv das Navi einschaltete und losfuhr. „Na dann, dunkle Wälder aufgepasst. Wir kommen!"

MondgeheulWo Geschichten leben. Entdecke jetzt