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Pünktlich zum Beginn des ersten Wintermonats kam zusammen mit der Kälte über Nacht auch eine Ladung Schnee. Schon, als ich am nächsten Morgen die Augen öffnete, machte mein Herz bei diesem Anblick einen erfreuten Satz.
Im Nachhinein konnte ich bloß über mein Verhalten lachen, da ich doch tatsächlich aufgesprungen und in meinem Pyjama nach Draußen gerannt war. Wie ein kleines Kind hatte ich mich im Kreis herum gedreht und die weiße Welt um mich mit großen Augen betrachtet.
"Du tust ja so, als hättest du noch nie Schnee gesehen", hatte mich meine Mutter von der Tür aus ausgelacht, aber in ihren Augen hatte ich dasselbe Glitzern gesehen, dass auch meine erfüllte.

Nun, da ich die Schule hinter mir gelassen hatte, verblasste diese Freude allmählich. Durch die zugeschneiten Wege und das Eis auf den Straßen war es mir unmöglich mit dem Motorrad zu Emily zu gelangen. Viele würden sich nun denken, nimm doch das Auto, doch da meine Eltern nicht Daheim waren, fiel auch diese Möglichkeit weg. Somit blieb mir bloß eine weitere Option. Ich würde wohl oder übel den Bus nehmen müssen.
Nach sieben Unterrichtsstunden schaffte es allein der Gedanke daran, in dieses Gefährt steigen müssen, mir meine gute Laune zu vermiesen.
"Du schaffst das schon", gluckste Olivia neben mir und klopfte mir auf die Schulter. Ich knurrte. Sie hatte leicht reden, denn immerhin war ihre Nase nicht einmal halb so empfindlich wie meine.
Ein Schauer des Ekels jagte meinen Rücken hinunter, als ich daran dachte, was für Gerüche mich alles erwarten würden. Käsefüße. Rauch. Gammliges Brot. „Ich glaub' mir wird übel."
Aber noch bevor ich die ganze Sache abblasen und mich aus dem Staub machen konnte, rollte auch schon der gelbe Schulbus vor und öffnete seine Pfoten. Mein Magen rebellierte.
"Jetzt reiß dich zusammen, Val", befahl mir Liv in einem strengen Tonfall, ignorierte mein Würgen und schubste mir die Stufen hinauf.
"Fahrkarte", patzte mich der kahlköpfige Busfahrer sogleich an, sodass ich zusammen zuckte. Wortlos schob ich ihm mein Geld zu, welches er murrend einsortierte. Während er sich damit beschäftigte, schaute ich mich im Bus um.
Wie erwartet, waren auch in Washington die Sitze mit demselben rauen Stoff ausgestattet und die Gänge genauso eng, wie ich sie in Erinnerung hatte. Unwillkürlich zog sich etwas in mir zusammen.
Dieser Anblick genügte, um mir klar zu machen, weshalb ich überhaupt meinen Motorradführerschein gemacht hatte. Ich hasste es in einem Raum mit so vielen Leuten eingesperrt zu sein.
"Weitergehen!", schnauzte mich der Busfahrer von neuem an. Hastig machte ich einige Schritte vorwärts, ehe ich wieder stehen blieb.
Mein Blick wanderte umher auf der Suche nach Sitzplätzen.
"Da", wies mich Olivia, welche inzwischen zu mir aufgeschlossen hatte, auf zwei Sitze in dem hinteren Bereich hin. Mit einem Nicken folgte ich ihrer Anweisung und ging darauf zu.
Mit jedem Schritt, den ich mich weiter von der offenen Tür entfernte, wurde der Geruch stärke, doch ich biss die Zähne zusammen. Es gab ohnehin kein zurück mehr. Ich musste da durch!

Nach fünfzehn Fahrtminuten gewöhnte sich meine empfindliche Nase allmählich an die zahlreichen Gerüche. Zurück blieben bloß die Kopfschmerzen.
Einige winzige Lichtblicke in dieser Zeit besaß ich dennoch. Die Aussicht, dass ich bald mein Ziel erreichen und diesem Höllengefährt entkommen würde und das stetige Aufspringen der Türen, die frische Luft mit sich brachten.
So atmete ich auch dieses Mal auf, als sich eine ältere Frau langsam die Treppen hinauf quälte. Selbst von meiner Position aus erkannte ich, wie anstrengend jede Bewegung für ihre Knochen war.
Augenblicklich sah ich mich einem freien Sitzplatz für sie um, doch alle schienen besetzt zu sein. Würde jemand aufstehen und dieser alten Frau Platz machen? Es sah nicht nur auf. Beinahe alle starrten auf ihr Handy. Ihnen war die Welt um sie herum gleichgültig. Aber wer würde auch einen Gedanken daran verschwenden seine eigenen Bedürfnisse hinter die eines anderen zu stellen. Ich schnaubte. Wir Menschen waren wirklich ein egoistisches Volk.
Der Bus setzte sich in Bewegung. Der Körper der alten Dame vor mir wankte schon allein bei diesem kleinen Schütteln gefährlich umher. Ich schüttelte den Kopf und da erkannte ich es. Ich war kein Mensch. Zumindest nicht ganz. Und selbst wenn, ich musste nicht wie alle anderen sein.
"Ma'am", sprach ich die Frau direkt an und stand auf. Die ältere Dame schaute mich fragen an und unwillkürlich erschien ein sanftes Lächeln auf meinem Gesicht. „Wollen sie sich vielleicht setzen."
Mit wackligen Schritten taumelte sie auf mich zu. „Wenn ihnen das nichts ausmacht."
Eilig winkte ich ab. „Das ist kein Problem."
Die Dankbarkeit mit der sie mich daraufhin ansah und sich setzte, ließ mein Herz weich werden. Genau. Es war unser freier Wille, welche unsere Entscheidungen beeinflusste und uns das werden ließ, was wir sein wollten.
"Val."
"Hm?", machte ich gespannt, was für Neuigkeiten Olivia mir verkünden würde.
"Die nächste musst du raus." Mein vernebeltes Gehirn brauchte einige Zeit, um ihre Worte zu verarbeiten, doch dann entwich mir ein freudiges Quietschen.
Auf der Stelle lagen alle Blicke auf mir und ich versuchte mich so klein wie möglich zu machen. Meine Freundin und die ältere Dame grinsten mich an.

Keine drei Minuten später hatte ich es überstanden. Endlich spürten meine Füße wieder festen Untergrund unter den Sohlen meiner Schuhe. Ich atmete zufrieden auf, ehe ich die Augen öffnete und mich umschaute.
Wie Olivia mir bereits erklärt hatte, befand sich die Bushaltestelle vor Emilys Haus mitten im Nirgendwo. Ich würde noch einen kurzen Spaziergang durch den Wald absolvieren müssen, ehe ich es erreichen würde. Im Augenblick hörte sich diese zusätzliche Strecke in meinen Ohren jedoch wie ein Segen an.
Im Vergleich zu dem beengten Bus konnte ich mich in der freien Natur entfalten, wie ich wollte. Keine Gerüche und keine fremden Leute hielten mich davon ab zu rennen, zu singen oder zu tanzen.
Leider kam ich viel zu zeitig an der kleinen Holzhütte an, welche die Hausnummer trug, die Emily mir gegeben hatte. Kurz spielte ich mit dem Gedanken noch einmal umzukehren und noch ein bisschen länger durch die Winterlandschaft zu streifen, aber dann schüttelte ich den Kopf. Es nützte ja ohnehin nichts.
"Dann mal los", murmelte ich und klopfte zweimal gegen die massive Holztür. Entgegen all meiner Bedenken wurde diese keine Sekunde später schwungvoll aufgerissen. Ein Lächeln erschien auf meinen Gesicht und ich setzte schon an mich vorzustellen, als ich erkannte, wer da vor mir stand. Mir klappte die Kinnlade herunter. „DU?!"

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Puhh, gerade noch dieses Kapitel geschafft, bevor ich jetzt ins Bett gehe. Fröhlichen zweiten Advent euch allen und viel Spaß bei Kapitel 22.^^
eure Zoey

MondgeheulWo Geschichten leben. Entdecke jetzt